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Über Meinungen zu streiten, ist in der Türkei an den Universitäten und in den Medien kaum noch möglich. Masolino hätte das bedauert.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Im 15. Jahrhundert verteidigt Masolino die Freiheit der Rede.

Hochschulprofessoren, die nicht mehr reisen dürfen, Journalisten, die verhaftet werden - die Freiheit der Lehre, der Meinung und der Rede gilt in der Türkei nicht mehr viel. Doch nur unabhängige Wissenschaftler können ihre Fächer voranbringen; Forschung und Medien brauchen den offenen, angstfreien Diskurs.

In alten Märtyrer-Darstellungen werden Menschen für ihre Überzeugungen gerädert, gehäutet, verbrannt. Schnell wird aus dem Bekenntnis zu einer Minderheit, dem frühen Christentum, eine Frage auf Leben und Tod. Wäre es nicht besser, über Weltbilder zu streiten? Das muss sich Katharina aus dem ägyptischen Alexandria gedacht haben, als sie der Legende nach dem römischen Kaiser gegenübertrat, der Christen verfolgte. Er sagte zu, 50 Philosophen zusammenzurufen, um mit ihr zu diskutieren. Die gelehrte Frau - in einigen Überlieferungen wird sie Doktor genannt - gewann Punkt um Punkt die intellektuelle Auseinandersetzung. Am Ende bekannten sich die Herren zum Christentum.

Besonders eindrücklich hat der toskanische Künstler Masolino, der Lehrer des großen Masaccio, die Szene gemalt. Sie ist Teil einer Wand mit Katharinenfresken, die vor 1431 in der römischen Kirche San Clemente entstanden und heute noch dort zu sehen sind. Katharina verweigert den Götzendienst, sie wird gerädert, und dann schlägt ein Henker ihr noch den Kopf ab. Am Ende gewinnt die wortlose Gewalt.

Vorher aber gewinnt der Gedanke. Schwarz gekleidet tritt Katharina den Philosophen gegenüber, was sie mit dem im Bild thronenden Herrscher vergleichbar macht. Ihr Heiligenschein über blondem Haar leuchtet heller als sein Hut, ebenso strahlen ihre Finger, an denen sie Argumente abzählt. Die Männer hinter ihrem Rücken wehren sich noch gegen die Lichtgestalt, die vor ihr aber kommen schon ins Grübeln - obwohl ihnen schwant, was sich als Vision im rechten Bildfeld abzeichnet: Auch sie werden für ihren Glauben auf dem Scheiterhaufen landen.

Schon die Renaissance weiß: Sanktionen aller Art sind ein Zeichen der Schwäche; stark ist die Freiheit des Sprechens, Streitens, Denkens.

© SZ vom 30.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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