Sprache und Politik:Wie wir reden, wenn wir von Krise reden

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Und andere rhetorische Finessen und Tricks hat die Internationale Gesellschaft der Geschichte der Rhetorik soeben auf ihrer Jahrestagung in Tübingen untersucht. Das Ergebnis der Vorträge spricht Bände.

Von Bernd Graff

Die Besonderheit der Rhetorik, sagte Aristoteles, liege darin, dass sie keinem bestimmten Wissensgebiet zuzuordnen sei; jeder wolle den anderen überzeugen. Und eben dies brachte ihr im Zeitalter des alleine leuchtenden rationalen Verstandes einen ziemlich schlechten Ruf ein: Während der Aufklärung wollte kaum jemand etwas von ihr wissen. Die auf Wirkung zielende Rede lenke von Wissen und vom Inhalt der Rede ab. Rhetorik sei sowieso nur Technik mit strategischer, ja manipulativer Absicht, also eine Verstellungskunst, die das Aufwieglertum fördere und Gegner schwäche. Kant lehnte sie kategorisch ab, Goethe schätzte sie gering. Und so wurde die Wissenschaft mit der Wende zum 19. Jahrhundert von der Königin der freien Künste zu einer Unterabteilung der neu entstehenden Philologien degradiert. Die 150-jährige "Rhetorische Pause" hatte begonnen.

Erst 1967 wurde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen von Walter Jens das deutsche Universitätsinstitut für Allgemeine Rhetorik gegründet. Seitdem ist der Bedarf an Rede wie Gerede als wichtigste kommunikative Motoren der Gesellschaft stark angewachsen, insbesondere unter den Bedingungen einer mediengestützten Öffentlichkeit wie der schönen Tschaka-Tschaka-Motivations-Mündlichkeit von Führungskräften, und so konnte die Rhetorik institutionell wieder Fuß fassen. Überall auf der Welt wird heute rhetorisch gewirkt - wie ein Kongress belegte, den die "International Society for the History of Rhetoric" nun in der Rhetorikstadt Tübingen abgehalten hat.

Alle zwei Jahre treffen sich Mitglieder aus dreißig Ländern der "Internationalen Gesellschaft für die Geschichte der Rhetorik", um sich über den Stand von Theorie und Praxis in allen Zeiten und Sprachen auszutauschen.

Jahrzehntelang entschuldigte sich Japan für Kriegsverbrechen, ohne sich zu entschuldigen

Was Rhetorik als Fach heute leisten kann, belegten der vorzügliche Beitrag von Severina Laubinger aus Tübingen und die Arbeit des Südkoreaners Sangchul Lee. Laubinger analysierte, wie das Wort "Krise" in der politischen Rede von heute strategisch eingesetzt wird. Ausgehend von der Wortgeschichte, die bei der Medizin des Hippokrates und der öffentlichen Rechtsprechung beginnt und etwa bei Aristoteles die Notwendigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit einzusetzen meint, wird der Begriff ab dem 18. Jahrhundert metaphorisch auf den Zustand von Staat und Wirtschaft übertragen. Dabei impliziert die Rhetorik der Krise wie in der antiken Medizin und Rechtsprechung den höchst kritischen Zustand mit ungewissem Ausgang wie den call to action, die unbedingte Aufforderung zu kluger Handlung, um die Unsicherheit der Krise zu beenden.

So entsteht der Topos der Krise, den man politisch hervorragend einsetzen kann, um auf etwas schlagartig aufmerksam zu machen, es als Fakt darzustellen, um jemanden als ihren Verursacher zu denunzieren, sich selber als den weitsichtigen Mahner zu präsentieren und als Krisenüberwinder dann politisches Gewicht und Bedeutung einzufordern. "Krise" mag zwar immer irgendwo sein, nach Laubingers Vortrag weiß man aber, dass Krise zuerst ein rhetorisches Spiel ist, eine Strategie, die andere von Krise überzeugen will.

Ebenso erhellend war der Vortrag des Südkoreaners Sangchul Lee. Er hat untersucht, wie sich die japanischen Regierungen in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg rhetorisch darin versuchten, sich für die japanischen Kriegsverbrechen durch verbale Manöver so zu entschuldigen, dass es keine Entschuldigungen sind. Dabei sticht hervor, dass es Entschuldigungen zwar durchaus im Ansatz gab, die aber etwa von Hirohito, dem 124. Tennō Japans, im Jahr 1984 umschrieben etwa so lauteten: Es habe da eine unglückliche Phase zwischen den Ländern gegeben, das sei sehr bedauerlich, aber sie werde sich nicht wiederholen. Nur etwas verbindlicher äußerte Akihito, der 125. Tennō von Japan, 1990 sein Bedauern: "Wenn ich an das Leid denke, das unser Land diesem Land in jener unglückseligen Zeit zugefügt hat, kann ich nicht anders, als tiefes Bedauern empfinden."

Das ist ehrenwert - als persönliche Erklärung. Als offizielle diplomatische Entschuldigung ist sie kaum tragfähig. Das sah auch die New York Times jüngst in einem Editorial so: "Japan wird seine bedeutenden Aufgaben in der Zukunft kaum erfüllen können, wenn es Kritik an seiner Vergangenheit nicht anzuerkennen versucht." Das ist ein Vorwurf, der von der New York Ti mes rhetorisch in seiner schönsten Form vorgetragen wurde.

Außenstehenden erschließt sich nicht ohne Weiteres, was Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin genau ist und wo sie im Chor der Geisteswissenschaften anzusiedeln ist. Zwar wird die "Redekunst" seit der griechischen Antike von bedeutenden Denkern ausdrücklich behandelt, räumte das Mittelalter ihr als "Königin der freien Künste" den exponiertesten Platz ein, rühmt sich die beschaulich schwäbische Universitätsstadt Tübingen, schon seit 500 Jahren Rhetorik zu lehren. Und doch weiß man sie immer noch kaum zu fassen.

Das liegt zum einen daran, dass sie gleichzeitig Lehre von der guten Rede ist und dann aber auch die Analyse ihres Gebrauchs. Sie ist also die Kunst oder Technik ebenso wie die Wissenschaft von der Rede, ihre Theorie wie ihre Praxis. Richtig kompliziert wird es aber deshalb, weil jede gute Rede ja mit der Absicht gehalten wird, jemanden zu überzeugen oder ihn zu einer Handlung zu bewegen oder in einem Streit zu gewinnen oder Sympathie zu wecken oder zu beeinflussen oder etwas zu beweisen oder alles zugleich, kurz: Sie will eine Wirkung bei jemand anderem als dem Redner erzielen.

In Tübingen nun ließ sich erleben, wie viele Disziplinen von der Rhetorik berührt werden, Aspekte der vergleichenden Kulturwissenschaft und Anthropologie etwa, der Sprach- und Kommunikationswissenschaft wie der Linguistik, der Soziologie und Psychologie, der Pädagogik und Stilistik, der Politikwissenschaft, der Philosophie und Ethik und, ja, auch der Theaterwissenschaft. Und: Man konnte beobachten, wie stark sie wiederum von diesen Disziplinen beeinflusst wird.

So brillierte der Franzose Pierre Zoberman zwar mit seinem Beitrag über "Gender-Konstruktionen des Fin de Siècle". Doch sein Vortrag bestand ausschließlich in der gelungenen Interpretation von Auguste Villiers de L'Isle-Adam "Contes cruels", jenen "Grausamen Erzählungen", in denen nervöse Adlige Sphinx-ähnlichen Demi-Monde-Dämchen erliegen. Alles ganz fein, und Zoberman hat auch nur Passagen mit wörtlicher Rede analysiert. Gleichwohl war es literarisch verfasste wörtliche Rede, also Literatur. Für deren Untersuchung benötigt man keinen geschulten Rhetoriker.

Ist der "weibliche Stil" nicht nur ein Mythos, womöglich ein von Männern erfundener?

Ähnlich verwirrend der Vortrag von Angela McGowan, die Redestrategien von Senatorinnen während des Government Shutdown Ende 2013 in den USA beleuchtete, einer fast dreiwöchigen Phase, in der das Land nach den geplatzten Verhandlungen über den Staatshaushalt nahezu unregierbar war. Obwohl auch McGowan in der Sektion Gender Construction sprach, verwandte sie zu ihrer Analyse die etwas angestaubte Theorie eines Feminine Style, den die Altfeministin Karlyn Kohrs Campbell in den Achtzigerjahren entwickelt hat. So seien die Senatorinnen parteiübergreifend sachlich geblieben und zielorientiert, intuitiv, vernünftig und besänftigend, persönlich und trotzdem dem Gemeinwohl verpflichtet: mütterlich eben.

Auf die Frage, ob dieser angeblich "feminine Stil" nicht ein Mythos, vielleicht sogar ein männlich induzierter sei, der Wesenszüge eines Geschlechterbildes von Frauen ebenso herbeifantasiere wie festschreibe, antwortete die Sprecherin: Sie habe die Rhetorik der Konfliktlösung untersucht, nicht den Gender-Trouble einer Judith Butler. In Zeiten einer Transgender-Debatte, die es im Fall der Caitlyn Jenner jüngst sogar auf den Titel der Vanity Fair geschafft hat, ist dies wissenschaftlich bemerkenswert naiv.

© SZ vom 03.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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