Sprach-Künstlerin:Wie der Wind weht

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Aufmerksame Beobachterin ihrer Umgebung und der Sprache: Herta Müller. (Foto: Marko Priske/laif)

"Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr": die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.

Von Lothar Müller

Haben Sprachen Augen? Ja, sagt Herta Müller und fügt hinzu: "In jeder Sprache sitzen andere Augen." Als sie in ihren Tübinger Poetik-Vorlesungen 2001 diesen Gedanken entfaltete, waren sogleich drei Sprachen im Raum. Die erste war der Dialekt, den die Banater Schwaben in dem Dorf im sozialistischen Rumänien sprachen, wo sie aufwuchs. Darin hieß es: Der Wind geht. Die zweite war das Hochdeutsche des Schulunterrichts. Darin hieß es: Der Wind weht. Und im Rumänischen, das sie mit 15 zu lernen begann, als sie aus dem Dorf in die Stadt ging, nach Temeswar, hieß es: Der Wind schlägt.

Wie die Welt in die Augen einer Sprache fällt, das ist der Kern des Wortes Weltanschauung. Diesem Kern ist Herta Müller immer treu geblieben. Aus ihm hat sie ihre Literatur entwickelt. Nicht treu geblieben ist sie ihrer Herkunftswelt. Und das hat mit der anderen Seite des Wortes Weltanschauung zu tun, den festen Weltansichten, den großen Konstruktionen, den harten Regimes, die sich auf eine Weltanschauung stützen.

Sie lebte noch in Rumänien, als ihr erstes Buch erschien, der Prosaband "Niederungen", ein dunkles, genaues Porträt ihres Dorfes, das mit dem Bild des toten Vaters beginnt, samt der Schreckensbilder, die aus seinem Grab und seinem Leben aufsteigen. Es gab da Flecken, die durch nichts abzuwaschen waren. Und Sätze wie diesen: "Die schwäbische Familie wartet frisch gebadet auf den Samstagabendfernsehfilm." Alles, was unterschwellig rumorte, wurde in dieser Prosa sichtbar. Das Buch erschien 1982 in einem deutschsprachigen Verlag in Bukarest, die Dorfbewohner konnten es lesen, und die Behörden konnten es auch lesen. Und beide lasen es.

Beide, die Dörfler und der Staat, spielten sich als Heimat auf. Daher das Misstrauen

Dass Herta Müller in ihren Essays immer wieder ihr Misstrauen gegen den allzu einverständigen Gebrauch des Wortes "Heimat" erkennen lässt, hat mit dieser Grunderfahrung ihrer Autorschaft zu tun. Die Dorfleute spuckten ihr ins Gesicht, als das Buch erschien, der Friseur rasierte den Großvater nicht mehr, und der Staat unterwarf die Autorin, die das schon weidlich kannte, neuerlichen Verhören. Vergeblich hatte die Securitate sie schon Jahre zuvor zur "Kooperation" pressen wollen.

Beide, die Dörfler und der Staat, spielten sich als Heimat auf, daher das Misstrauen. Und die Suche nach einer Sprache, in der sich den Erfahrungen, die sie machte, und niemandem sonst die Treue halten ließ. "Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr", sagte Herta Müller zu Beginn ihrer Tischrede, als sie im Dezember 2009 den Literaturnobelpreis erhielt. Da war die Sprachbewegung, der sie folgte, schon weit gekommen.

Die Securitate war ihr gefolgt, als sie 1987 in die Bundesrepublik Deutschland ausreiste, nach Westberlin, und die Erinnerung an tote Freunde nahm sie auch mit. Aus dem Lebensstoff eines lebenden Freundes, Oskar Pastior, machte sie den Roman, der im Jahr des Nobelpreises erschien. "Atemschaukel", die Geschichte eines jungen Mannes, der unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in eines der sowjetischen Arbeitslager deportiert wurde. Darin sagt der Ich-Erzähler auf einer der ersten Seiten: "Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken."

Da sprach eine literarische Figur. Herta Müllers Essay "Aber immer geschwiegen", der 2011 erschien, handelte von dem "IM Stein Otto", der stumm in ihrem 2006 verstorbenen Freund Oskar Pastior gesteckt hatte, von dem gepressten, erpressten, zeitweiligen, wortkargen IM, dem sie nach dem Studium seiner Akte die Treue hielt: "Wenn Pastior noch leben würde, würde ich jedesmal, wenn ich zu ihm käme, insistieren, dass er seine Akte lesen und selbst darüber schreiben soll. Aber jedesmal würde ich ihn dabei in den Arm nehmen."

Es ist gut, Herta Müller zuzuhören. Sie hat sehr viel zu erzählen. Und eine Sprache mit Augen.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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