Soziologie:In Schieflage

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Stephan Lessenich beschreibt globale Ursachen von Reichtum und Elend. Doch was aus seiner Analyse folgen soll, bleibt leider offen.

Von Cornelius Pollmer

Das Wort "Externalisierungsgesellschaft" ist zu lang, um in einem Rap-Song Verwendung zu finden. Es ist zu kompliziert, um das Publikum einer Talkshow in den Szenenapplaus zu treiben. Und es knallt nicht genug, um bei einem Attac-Kongress den Saal zum Johlen zu bringen. Das Wort "Externalisierungsgesellschaft" aber ist, immerhin, leitendes Motiv in Stephan Lessenichs Buch "Neben uns die Sintflut".

Lessenich, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, beschreibt darin einen globalen "Verursachungszusammenhang" und zwar den folgenden: Sehr wenigen Menschen auf der Welt geht es materiell sehr, sehr gut, anderen immer noch sehr gut. Sehr vielen Menschen hingegen geht es schlecht bis furchtbar. Der Zusammenhang besteht nun darin, dass ohne das Elend der einen der Wohlstand der anderen nicht denkbar wäre. Wer diesen Text hier liest, gehört mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zu diesen anderen. Wer das Buch von Stephan Lessenich überhaupt aufschlägt, ist mit kaum geringerer Wahrscheinlichkeit bereit, über den geschilderten Verursachungszusammenhang zumindest nachzudenken. Und genau deswegen ist es schade, dass die ersten knapp 80 Seiten hauptsächlich einen Gedanken anregen, nämlich sehr konkret den, das Buch alsbald selbst und noch vor seinem Ende zu externalisieren.

Lessenich beginnt mit einem Immerwiederkäuen, einer Endlos-Beschreibung der doch in ihrem Wesen offensichtlichen Kausalität: Uns - im Sinne des globalen Nordens - kann es materiell nur so übermäßig gutgehen, weil es denen - im Sinne des globalen Südens - nicht gutgeht. Das also beschreibt Lessenich wieder und wieder. In guten Momenten bleibt einem da die kleine Freude, dass er auch bei der x-ten Wiederholung ein y-tes Synonym für redundante Redundanzen findet. In schlechten Momenten erinnert der Text an jenes alte Rezept, das einen irgendwie schon immer an Geisteswissenschaftlern genervt hat: Nimm einen plausiblen Zusammenhang und beschreibe ihn so lange und wortumständlich, bis er klingt wie eine Erkenntnis, wenn nicht: ein Forschungsergebnis!

Was folgt aus der Analyse? Dafür ist offenbar die Soziologie nicht zuständig

Auf Seite 50 erläutert Lessenich noch einmal selbstmotivierend, was das vorliegende Buch zu leisten eigentlich im Sinn hat, er prokrastiniert gewissermaßen im Schreiben, bevor er endlich beginnt mit jenem Teil, der die Stärke von "Neben uns die Sintflut" ausmacht. Vom Fall der Sojarepublik Argentinien bis zum großen Bäh und Igitt der Garnelenproduktion findet Lessenich viele und konkrete Beispiele, um die grundsätzliche Einsicht in die Schieflagen der Welt fallweise und nachvollziehbar zu beleben. Er erweist sich nun insofern als lupenreiner Soziologe, als er in der Analyse zunächst präzise und stichhaltig argumentiert - dieser dann aber nicht mehr viel hinzufügt. Konsequenz-Ideen, Handlungsempfehlungen, konkrete Politikangebote? Das soll die Sache anderer Fachbereiche bleiben.

Lessenich führt vor allem zwei Gründe an, warum der globale Norden bei in aller Regel bester Laune so lebt, wie wir leben. Erstens, weil er es kann. Zweitens, weil er nicht anders kann. Damit sind Schönheit und Schuld der Wohlstandsgesellschaften ziemlich gut umrissen.

Nur führt, wie Stephan Lessenich konstatiert, die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umdenkens dieses nicht automatisch herbei. Entgegen seiner konkludieren Falschbehauptung, keine Morallehre vorlegen zu wollen, hat der Autor in dieser Frage natürlich eine klare Position. An der die Weltverhältnisse betreffenden, kollektiven Gemütlichkeit aber wird sich so schnell nichts ändern. Einige weitere Gründe dafür führt das Buch selbst an, etwa jenen, dass soziale Ungleichheiten in Aufmerksamkeitskonkurrenzen stehen: selbst relative Armut in Deutschland liegt im Zweifel eher in Betrachteraugen als existenzielle Armut anderswo.

Einen anderen Grund könnte man im Charakter von "Neben uns die Sintflut" selbst finden. Es rüttelt mit seinen dramaturgischen Schwächen zu wenig an jenen, die für das Problem noch gar nicht sensibilisiert sind. Und es gibt allen anderen kein neues Rüstzeug, die gedanklich oder argumentativ gerne den nächsten Schritt machen würden.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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