Sommerroman:Alles regelt sich

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Finnische Melancholie in jungen Jahren: Olli Jalonens "Von Männern und Menschen".

Von Kristina Maidt-Zinke

Nur wenige Leser dürften sich aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es in Finnland vor gut vierzig Jahren war, als man das Wort "Globalisierung" noch nicht kannte, gewisse Kreise indes die "Finnlandisierung" als verbales Kampfgeschoss des Kalten Krieges einsetzten. Zwar waren in jener Zeit die kulturellen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern generell noch so ausgeprägt, wie es sich die Nachgeborenen kaum mehr vorstellen können. Doch Finnland hatte, bedingt durch seine politisch und wirtschaftlich ausgeklügelte, von der westlichen Rechten mit Argwohn beäugten Sonderstellung zwischen zwei konträren Gesellschaftsmodellen, eine sehr spezielle Atmosphäre, zu der die geografische und sprachliche Randlage, die dünne Besiedlung und das nordische Klima ein Übriges taten.

Die dunklen und die skurrilen Seiten dieser Konstellation wurden erst ein Jahrzehnt später durch die Brüder Kaurismäki im Kino weltbekannt, exemplifiziert vor allem an Außenseitern und Abgehängten der städtischen Zentren. Der Schriftsteller Olli Jalonen, Jahrgang 1954, siedelt seine Figuren in einem anderen, sozusagen "normaleren" Milieu an. Im Roman "Von Männern und Menschen" erzählt er vom Sommer des Jahres 1972 in der südfinnischen Provinz, und er tut es mit einem bedächtigen Realismus, in dem die damalige Zeitstimmung ihren adäquaten Ausdruck findet. Das ist allein schon dokumentarisch von hohem Wert. Hat man sich erst einmal auf die Handlung eingelassen, die einem anfangs ein wenig spröde und ereignisarm vorkommen könnte, wird man hinter der Langsamkeit und Geradlinigkeit dieses Erzählens die Qualitäten entdecken, die Olli Jalonen zu einem der renommiertesten finnischen Autoren gemacht haben.

Alles regelt sich, das ist die Devise des Romans, wenn man es regelt

Schade, dass der Roman beim Buchmessenauftritt Finnlands vor zwei Jahren noch nicht auf Deutsch vorlag - er hätte dem Bild des kleinen, eigensinnigen Literaturlandes, das damals auf "Coolness" setzte, eine interessante Facette hinzugefügt. Denn bei der Lektüre kommt einem viel eher das Wort "warmherzig" in den Sinn. Zugegeben, es steht auch im Klappentext, aber besser lässt sich kaum charakterisieren, wie Jalonen seinen Helden (in dem fraglos ein großer Anteil von ihm selbst steckt) und dessen Umfeld schildert.

Der Ich-Erzähler steht im Sommer 1972 kurz vor seinem 18. Geburtstag - und vor der Entscheidung, ob er das Abitur machen oder die Schule verlassen soll. Eine Lehrerin, die seine Begabung erkannt hat, will ihn als Stipendiaten in die USA empfehlen, was ihn jedoch kaum interessiert. Für ihn ist es wichtiger und zugleich selbstverständlich, seine Eltern zu unterstützen, da sein Vater nach mehreren Infarkten nicht mehr arbeiten kann. Ein Autokauf muss rückgängig gemacht werden, Raten sind abzustottern. Vetter Lampinen, entfernter Großcousin des Vaters, Freund der Familie und außerdem der besonnene Bruder des cholerischen Autohändlers, arrangiert einen Aushilfsjob in seiner Klempnerfirma "Volles Rohr", die aus Rentabilitätsgründen vorwiegend Dächer und Regenrinnen baut. So verbringt der junge Mann seine Ferien zwischen Werkstatt und Baustellen unter erwachsenen Männern, arbeitet mit Blech, übernachtet im Wohnwagen und lernt eine neue Welt kennen, in der er sich alsbald zu Hause fühlt.

Diese Welt ist voll alltäglicher Mühsal, bevölkert von mehr oder weniger verschrobenen Individuen und keineswegs konfliktfrei. Und doch funktioniert sie, nach Vetter Lampinens Devise "Alles regelt sich, wenn man es regelt", erstaunlich gut. Werte wie Loyalität, Empathie und Solidarität prägen, ohne beim Namen genannt zu werden, das Leben in der kleinen Gemeinschaft, und pragmatische Vernunft hilft bei Problemlösungen. Insofern ist der Provinzkosmos, den Jalonen beschreibt, repräsentativ für die finnische Gesellschaft jener Jahre, von der man durchaus den Eindruck gewinnen konnte, sie sei bemerkenswert "vernünftig" organisiert. Hinzu kommt: Wir befinden uns in einer Zeit und in einer Gegend, in der - und das unterscheidet Jalonens Rückschau von den meisten bundesrepublikanischen Adoleszenz-Erinnerungsromanen - die Wahrnehmung noch nicht von Labels und Marken infiltriert ist, das Referenzsystem der Popkultur seine flächendeckende Herrschaft noch nicht ausübt.

Stattdessen gibt es den literarischen Bezugsrahmen, den der Autor so dezent wie stimmig eingebaut hat: Die Freundschaft zwischen den Wanderarbeitern George und Lennie in John Steinbecks "Von Mäusen und Menschen" wird, wenngleich ohne tragischen Ausgang, gespiegelt im Verhältnis zwischen Jalonens Erzähler und dem bärenstarken, geistig leicht behinderten Rekku, mit dem er den Wohnwagen teilt. Das "STE-Buch", ein verschlamptes Bibliotheksexemplar, hat Rekku mitgebracht, und er nennt es kurioserweise "Männer und Menschen". Mit der Romanfigur Lennie verbindet ihn, neben der Zuneigung zu Kaninchen, die Tatsache, dass er eine fürsorgliche Tante hat. Bei Steinbeck ist die Dame schon verstorben, bei Jalonen hingegen quicklebendig und jung genug, um den Erzähler zum Mann zu machen, wie es so schön heißt - noch bevor er Karina, seine eigentliche Liebe, für sich erobern kann.

Was einen Mann zum Menschen macht, lernt er in diesem Sommer, indem er Verantwortung übernimmt. Für den kranken Vater, der überdies ein Familiengeheimnis mit sich herumschleppt, und für die von Sorgen geplagte Mutter. Für Rekku, der in schwierige Situationen gerät. Für die Installationsarbeiten, die man ihm anvertraut, für die Autos, die er unter dem Druck der Umstände ohne Führerschein fahren muss. Und nicht zuletzt für sich selbst, denn natürlich ist eine Zukunft als Klempner für ihn nicht vorgesehen. Dass etwas ganz anderes aus ihm werden wird, verraten nicht nur seine scharfe Beobachtungsgabe, seine Sensibilität und sein Hang zum abwägenden Nachdenken, sondern auch sein subversiv-kreatives Talent.

Es ist die große Zeit des Piratenfunks, und Karinas Zwillingsbruder Jukka, der den Helden zur Mitwirkung an seinem Projekt "Radio Satan" überredet, reist bis nach Holland, um sich Anregungen bei "Radio Veronica" zu holen. Über die Funkwellen kommt die große weite Welt nach Finnland, und die jungen Radiomacher sind beim Basteln ihrer Sendungen ebenso erfinderisch wie bei der Schnapsherstellung: Sie schneiden Politik-Beiträge der offiziellen Sender zu fingierten Interviews zusammen und lösen damit quer durch die einander verdächtigenden Parteien einen Sturm der Entrüstung aus. Hier, zum Beispiel, offenbart sich das humoristische Potential des Romans - nach Art des Autors lakonisch, unaufdringlich und trocken.

Was damals, im Olympiasommer des Jahres 1972, die politische Szene Finnlands bewegte, erläutert der Übersetzer Stefan Moster, Jahrgang 1964, im Anhang. Das ist einerseits hilfreich, andererseits irreführend, weil die lange Amtszeit des Staatspräsidenten Urho Kekkonen darin auf eine Weise negativ beurteilt wird, die bei so manchem Finnen der betroffenen Generation heute auf Widerspruch stoßen dürfte. Erhellender ist da die Position des Erzählers, der den politischen Debatten seiner Handwerker-Kollegen aufmerksam lauscht, ohne sich einzumischen. Und der, nachdem er die Zeitungsartikel zu dem Interview-Skandal durchforstet hat, schließlich nicht ohne Stolz feststellt: "Jetzt habe ich einen Fall von zwei Seiten betrachtet."

© SZ vom 26.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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