Slowenische Literatur:Sein geistiger Körper, nur noch ein feiner Dunst

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Wie Slowenien ins 21. Jahrhundert kam: Florjan Lipuš hat seinen epochalen, erstmals 1972 erschienenen Roman "Der Zögling Tjaž" mehr als vierzig Jahre später mit einer aktuellen Nachschrift versehen, die es in sich hat.

Von Karl-Markus Gauss

Als 1972 in Maribor "Der Zögling Tjaž" erschien, war dies tatsächlich seit 106 Jahren der erste Roman, der von einem Kärntner Slowenen veröffentlicht und überhaupt erst der zweite, der von einem Angehörigen dieser österreichischen Volksgruppe verlegt wurde. Aber was für einen Roman hat der 1935 geborene, in einer kleinen Kärntner Gemeinde als Lehrer arbeitende Florjan Lipuš da vorgelegt - ohne an Vorläufer, Vorbilder anschließen zu können!

Die österreichischen Slowenen waren im zwanzigsten Jahrhundert zwei Mal verraten worden. Zum ersten Mal 1920, als sie sich bei der Kärntner Volksabstimmung mehrheitlich dafür entschieden, dass ihre Gebiete zu Österreich, nicht zum Königreich der Südslawen gehören mögen. Damals waren sie es, die dafür sorgten, dass weite Teile Kärntens nicht an den neuen jugoslawischen Staat fielen. Die Deutschkärntner dankten es ihnen, indem sie sogleich eine wüste Germanisierung propagierten und während des Nationalsozialismus viele ihrer slowenischen Nachbarn denunzierten und ans Messer lieferten.

Zum zweiten Mal wurden sie verraten, als ihnen im österreichischen Staatsvertrag von 1955 ausdrücklich das Recht auf Ortstafeln, Schulen, eine angemessene kulturelle Repräsentation zugebilligt, dieses Recht im politischen Alltag aber die längste Zeit nicht durchgesetzt wurde. Das hat dazu geführt, dass die slowenische Sprache in der Öffentlichkeit gebannt blieb, die Vertreter der Volksgruppe meist stockkonservativ agierten und nicht wenige Slowenen das verächtliche Bild der Deutschkärntner übernahmen, ihre Sprache und Kultur für minder zu halten begannen und endlich den Wechsel der Nationalität vollzogen.

Diese wilde Sprache, gefügt aus Uraltem und ganz Neuem, setzt alle Erwartungen außer Kraft

In dieser für die Volksgruppe bedrängenden und bedrückenden Situation hätte man erwarten können, dass der zweite Roman in der Geschichte der Kärntner Slowenen entweder den linden Trost der traditionellen Erbauungsliteratur bieten oder appellativ zum politischen Widerstand aufrufen würde. Doch Florjan Lipuš hatte ganz anderes im Sinn: "Der Zögling Tjaž" ist ein Sprachkunstwerk ersten Ranges, faszinierend, aber nicht leicht zu lesen, mit ausufernd langen Sätzen, voll alter, schon halb vergessener Wörter und neuer Wendungen, mit drei verschiedenen Erzählerstimmen und Passagen, die die bürokratische Sprache der Herrschaft verfremden oder die Dinge sarkastisch ritualisieren.

Kühn hat sich Lipuš damit über die Erwartungen hinweggesetzt, die die Slowenen selbst von einem Roman haben mochten, und seinen Lesern das Höchste abverlangt: sich auch sprachlich nicht mit dem Altbekannten von Küche und Kirche abzufinden, sondern diese wilde Sprache, gefügt aus Uraltem und ganz Neuem, aufzunehmen. Er hat sein slowenisches Publikum also keineswegs unterfordert, aber Lipuš hielt und hält das "Selbstbewusstsein" eben für die einzige Überlebenschance einer kleinen Nation, und dieses, schrieb er in einem Aufsatz, können "wir nur mit origineller Literatur erreichen, die vor allem Sprache ist, nicht alltäglich, sondern eigenartig, vorwärts und aufwärts gerichtet".

Es war ein folgenreicher Glücksfall, dass Peter Handke und Helga Mracnikar den "Zögling Tjaž" übersetzten und dem Roman im Deutschen Klang und Farbe gaben: Von ihrer mitreißenden, notwendigerweise freien Übersetzung ging das Buch aus den Kärntner Tälern hinaus in die Welt. In zehn Kapiteln wird die kurze Lebensgeschichte des armen, einzelgängerischen, wissbegierigen, trotzigen Tjaž erzählt, der in ein katholisches Internat kommt, sich in dessen streng reglementierter Welt zu bilden und zu behaupten versucht, eine Geliebte findet und die ermordete Mutter nicht vergisst und, nach Jahren der Anstalt verwiesen, einen einzigen Tag "in Freiheit" verlebt und dann vom obersten Stock eines Hochhauses in den Tod springt.

Zum wiederholten Male wird das epochale Buch neu aufgelegt, nun aber mit einem wesentlichen Zusatz. Lipuš hat für die slowenische Neuauflage von 2013 eine "Nachschrift" verfasst, und die hat es in sich. Auf immerhin siebzig Seiten nimmt sich der Autor seine eigene Geschichte noch einmal vor, er erzählt, was geschah, ehe Tjaž ins Internat kam, und was sich in den vergangenen Jahrzehnten in Kärnten ereignet hat, seit der Roman um den unglücklichen und renitenten "Internatling" zum ersten Mal erschienen ist. Lipuš greift also einerseits noch einmal seine Romanfiktion auf, der er wichtige Momente hinzufügt, und stellt den Roman andererseits in seine politischen und historischen Zusammenhänge.

Florjan Lipuš erzählt von Mutter und Vater seiner Figur und gibt dabei zu erkennen, wie nahe ihm der aufbegehrende Tjaž biografisch steht. Es geht zu Herzen, wenn er von der Mutter berichtet, die eines Tages von den Gendarmen abgeholt und ins Konzentrationslager verschickt wird; selbst als später im Ort ein Stein an die Opfer des Krieges erinnert, fehlt darauf ihr Name: "Der Name war wichtig, er besagte, dass sie gelebt hatte. Wer ohne Namen ist, hat auch nicht gelebt." Dass Österreich mit schändlicher Verspätung einigen Ortstafeln in Kärnten slowenische Bezeichnungen hinzufügen ließ, weiß er durchaus zu würdigen.

Seine unerbittliche Kritik gilt den Slowenen selbst, von denen inzwischen viele die Sprache ihrer Herkunft aufgegeben haben, namentlich den Gebildeten und gar den Schriftstellern unter ihnen, die "ihre Lebenskrisen in den Umstiegsbüchern zur Schau stellen": in Büchern also, für die sie von der slowenischen in die deutsche Sprache gewechselt haben. Lipuš hält das für einen unentschuldbaren Verrat an denen, die verfolgt oder gar ermordet wurden, weil sie sich als Slowenen bekannten.

Gegen Ende der Nachschrift lässt er den toten Tjaž auf ein Volksfest von heute gehen, "sein geistiger Körper, nur noch ein feiner Dunst", schlängelt sich unsichtbar durch die gut gelaunte Menschenmenge. Angewidert muss der Tote erkennen, dass die Verfolgten in der Ära "fortschreitender Anpassung" vergessen wurden und damit auch seine eigene Selbstaufopferung nichtig war: "Sie haben das Lager überstanden, sind lebend zurückgekehrt, jetzt werden sie von den Nachkommen geschlagen und beraubt. Die Anpassung auf höherer Stufe ist der Anfang der letzten Stufe, was dann kommt, ist nur noch geistige Finsternis, vollständige Dunkelheit, körperliches und geistiges Verschwinden."

So endet die Geschichte des aufsässigen Tjaž mit einer Bilanz, die düsterer für die Kärntner Slowenen gar nicht ausfallen könnte.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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