Slowenien:Es brennt in den Kolonien

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Plakatwerbung auf einer Straße in Ljubljana, Slowenien. (Foto: Frank Schirrmeister/Ostkreuz)

Aleš Šteger fragt sich, wie revoltiert man gegen die eigene Dummheit, sich freiwillig zur Kolonie gemacht zu haben?

Von Aleš Šteger 

Es gibt kein neues Europa. Es gibt nur Modifizierungen eines alten Europa. In Europa gibt es zwei Europas, the West and the Rest. Der Westen hat seit 1945 keinen Bruch seiner Eliten erfahren. Es gibt Kerneuropa und die immer faulere Schale drumherum, Zentrum und Peripherie, Alt-Europa und seine europäischen Kolonien.

Die Peripherie Europas ist vom Kern abhängig, nicht umgekehrt. Ideologien, Spielregeln, strategische Kapitalentscheidungen werden im Kern getroffen. Falls jemand Unfug treibt und mit dem Gedanken spielt, strategische Anlagen in der Peripherie an dritte, zum Beispiel an chinesische Investoren, zu verkaufen, läutet sofort das Telefon. Man ließ sich zum schlechten Schüler erziehen, der seit 25 Jahren die erste Klasse wiederholt - und der soll man auch bleiben. Für immer muss man dieser arme Schüler bleiben, sonst haben die Lehrer keinen mehr, den sie belehren könnten, und die ganze Schule müsste schließen. Umgekehrt wollen die Lehrer von den Schülern nicht belehrt werden, man hört aus demokratischer Höflichkeit zu, nickt und macht es dann doch alles so, wie man es selber geplant hat.

Jetzt aber brennt es an den Rändern Europas. Die gegenwärtige Situation zeigt klar, dass man nach 1989 nie ehrlich versucht hat, ein ausbalanciertes, dezentrales, auf lokaler Identität und pluralem Selbstbewusstsein basiertes Europa aufzubauen. "Ein Europa der Regionen", das große Projekt Brüssels, war eher ein Versuch, die Nationalstaaten zu schwächen und auf alte Europagliederungen zurückzugreifen. Brüssel hat Autobahnen an den Rändern gebaut, zerfallene Häuser verputzt und Fabriken an die Peripherie verlegt - immer mit einem ökonomischen Kalkül, von dem auch das Zentrum profitierte.

Wie revoltiert man gegen die eigene Dummheit, sich freiwillig zur Kolonie gemacht zu haben?

Entscheidungen wurden aber immer weniger am Rand getroffen. Der erhoffte Emanzipierungsprozess ist ausgeblieben. Der alte Westen hat hier nicht mal nachhelfen müssen, da sich die neuen, jungen Demokratien ja allzu oft selber auf die Füße getreten sind. Nicht zu helfen war ja schon genug. Was zählte, war, die Position von kerneuropäischen Anlagen in den europäischen Kolonien zu sichern. Die Kolonien sollten auf lange Sicht Zulieferer fürs Zentrum bleiben. Schüler und Zulieferer. Aus der Sicht Zentraleuropas waren sie und bleiben sie oft noch immer Unorte ohne Kultur, Sprache, Eigenständigkeit.

Jetzt aber brennt es an den Rändern Europas, es brennt in den Kolonien. Und erst in diesem Feuer zeigt sich das wahre Gesicht Europas, das grimmige Gesicht der Kapitalzentren. Die Schwächung und Entmachtung der europäischen Kolonien führten in diesen Ländern zu einem inneren Relativierungsprozess. In jedem Schüler, der 25 Jahre lang die erste Klasse wiederholt, wächst ein Revoltepotenzial.

Wie revoltiert man gegen die eigene Dummheit, sich freiwillig zur Kolonie gemacht zu haben? Gegen die noch größere Dummheit nationalistischer Parolen und einer zugespitzten Euroskepsis, die ein Orientierungsvakuum ausfüllt und auf einmal ganz plausibel erscheint. Wo die eigene Dummheit groß genug ist, bekommt man Argumente genug für eine Renationalisierung, neue Mauern werden hochgezogen wie in Ungarn, neue Kriege angezettelt wie in Mazedonien, alte Kriegsverbrecherbanden wie die Tschetniks und die Ustaša in Serbien und Kroatien werden rehabilitiert, es herrscht politisches Chaos wie in Rumänien, Krieg in der Ukraine, Massenabwanderung wie in Slowenien. Und überall Angst vor Einwanderern.

Das politische Profil des Leaders in den europäischen Kolonien gleicht zunehmend dem Erdoğan-Orbán-Berlusconi- Typus, einem Machthaber, der auf Not mit absoluter Solidaritätsverweigerung, auf Engstirnigkeit mit stiller Repression, auf Dummheit mit noch größerer Dummheit und Machtgetue antwortet. Er ist jemand, der den Massen angesichts der fehlenden Perspektiven irgendein starkes Identitätsprofil hinsetzt - und sei es noch so katastrophal.

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj in Slowenien, lebt als Autor, Lektor und Übersetzer aus dem Deutschen und Spanischen in Ljubljana. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband "Buch der Körper" (2012) im Verlag Schöffling & Co.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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