Shortlist zum Deutschen Buchpreis:Küssen ist fast so schwer wie Rauchen

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In seinem neuen Roman "Skizze eines Sommers" erzählt André Kubiczek eine Coming-of-Age-Geschichte aus dem Potsdam der Achtzigerjahre. Und findet den richtigen Ton.

Von Meike Fessmann

An den Rändern des Sommers flattert sie immer umher: ganz ohne Melancholie ist kein Sommer zu haben, so hell und licht er auch sein mag, so lang und prächtig. Sobald der Spätsommer beginnt, liegt sie ohnehin in der Luft. Wenn die Erinnerung nicht trügt, sind selbst die großen Ferien der Jugendzeit keine reine Freude. Das Schuljahr über als Lockvogel benötigt, ist ihr Glück unterlegt mit der Drohung unendlicher Langeweile - die Freunde unerreichbar an irgendwelchen Ferienorten, man selbst in familiärer Geiselhaft. Umso kostbarer die Tage, wenn zufällig alle da sind. Von einem solchen Moment erzählt der neue Roman von André Kubiczek. Er spielt 1985 in Potsdam und fängt das Große-Ferien-Gefühl auf gültige Weise ein.

Die Wohnung in einer Neubausiedlung ist nach dem Tod der Mutter nicht mehr sehr gemütlich

"Skizze eines Sommers" heißt der Roman nach einem Song von The Durutti Column, und er hat den lässigen Huckleberry-Finn-Ton, der seit Herrndorfs "Tschick" so viele Nachahmer findet. Dieser Roman allerdings ist eigenständig. Und er ist es auf eine Weise, die selbst Skeptiker betört. Der 1969 in Potsdam geborene Schriftsteller unterlegt seinen coolen Sommer-Sound mit einer Hintergrundstrahlung, die dem Oszillieren zwischen Dunkelheit und Helle, zwischen dem Schwarzen und dem Leuchtenden, das ihn auf allen Ebenen charakterisiert, große Intensität verleiht. Das merkt man gar nicht unbedingt sofort. Es wirkt subkutan - wie der Schmerz über den Tod der Mutter, von dem René, der Icherzähler, nicht erzählen will.

René lebt mit seinem Vater in einer Neubausiedlung im Potsdamer Südosten. Seit dem Tod der Mutter ist die Wohnung nicht mehr besonders gemütlich, die Topfpflanzen sind verkümmert, die Bettwäsche wird nicht mehr regelmäßig gewechselt, alles, was mit Gefühlen zu tun hat, wird unter den Teppich gekehrt. In diesem Sommer allerdings, dem Sommer, bevor er auf ein Elite-Internat nach Halle muss, ist sie die große Attraktion. Sieben Wochen lang hat René sturmfreie Bude. Der Vater ist als sozialistischer Reisekader bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen. Vor seiner Abreise hat er dem Sohn tausend Mark in die Hand gedrückt, dazu noch zweihundert Mark extra. Denn Renés sechzehnter Geburtstag fällt in die Zeit seiner Abwesenheit.

Sieht nur aus wie Disco in der "Mehrzweckgaststätte Orion", ist aber ein Jugendtreff im "Palast der Republik". (Foto: picture-alliance / dpa)

Aus den Mix-Tapes und Doppel-Kassettenrekordern wird hier kein nostalgischer Katalog gebastelt

Also alles bestens? Jung sein und das Leben genießen ist dann doch nicht so einfach, wie man es sich vorstellt. "Küssen ist fast so schwer wie Rauchen", heißt es einmal. André Kubiczek kann beides: Er lässt uns die Leichtigkeit spüren, die maßlose Freude, wenn etwas zum ersten Mal gelingt - und das Herzklopfen beim Küssen endlich nicht mehr mit Angst, sondern mit Glück zu tun hat. Er lässt uns aber auch einen Blick in die abgrundtiefe Dunkelheit werfen, die seinen Erzähler auf andere Weise überkommt als seine Freunde, die nur damit kokettieren. Mario, dessen Vater Libanese ist und mit seiner Mutter in der Wohnung über René wohnt, schleppt ohnehin jedes Mädchen ab. Michael und Dirk teilen zwar seine Leidenschaft für "dekadente" Literatur, für Rimbaud, Mallarmé, Baudelaire, Verlaine, Huysmans, aber sie sind weder so empfindsam noch so loyal wie er. Heimlich reisen sie einem Mädchen hinterher, dessen Ferienort ihnen René verraten hat. Ihm gegenüber behaupten sie, bloß gemeinsam zelten zu gehen.

Die Embleme der Zeit - der Doppel-Kassettenrekorder, die Mix-Tapes als Liebesgabe, die schwer erhältlichen Bücher - spielen zwar eine Rolle. Aber der Autor bastelt daraus keinen Warenhaus-Katalog nostalgischer Sehnsucht, weder nach der DDR noch nach den Achtzigerjahren. Stattdessen gelingt es ihm, im Besonderen das Allgemeine aufscheinen zu lassen. Während er seinen Erzähler in die Nomenklatur der Gefühle einführt, lässt er das Imaginäre erblühen, in einer Sprache, die sich schlicht und cool gibt, deren männlich eingeübte Ironie René aber zunehmend lästig wird. Er will auf die andere Seite wechseln, zu den Mädchen, mit denen man echte Gespräche führen kann. Er weiß nur noch nicht so recht, wie.

Um das Probe-Lieben dieser Lebensphase mit Ernst und Witz darzustellen, setzt Kubiczek ganz beiläufig erzähltechnische Kniffe ein. Kaum hat sich René beim Disco-Abend in der "Mehrzweckgaststätte Orion" mit dem Mädchen, das "nie zur falschen Musik tanzte", für später auf der Parkbank verabredet, wird er von der schönen Bianca angemacht und kann ihr nicht widerstehen. So bleibt es fast den ganzen Roman über "das Mädchen ohne Namen" und also geheimnisvoll. Manchmal nennt er es auch "die große Schwester von Fritzi". Denn die Zeit reichte zwar, ihm von dem kleinen Quälgeist zu erzählen, nicht aber, den eigenen Namen zu offenbaren. Dessen Enthüllung wollte René für die Parkbank aufsparen, um den Genuss zu steigern.

"Skizze eines Sommers" erzählt von der Suche nach dem "vollkommenen Moment", vom Wunsch, ihn festzuhalten, und davon, dass das nicht einmal in der Jugend gelingt. Er erzählt von Erinnerung und von der Scham, die wohl der eigentliche Antrieb des Erzählers ist. Nicht der Tod der Mutter schmerzt ihn am meisten, ihr "Siechtum, ihre Agonie" waren schlimmer. Sein eigentlicher Schmerz ist die "Erleichterung", die er über ihren Tod empfand, "als er meine Mutter endlich aus unserem Leben nahm". Das gesteht er einem der vielen Mädchen des Romans unter Tränen.

Der Krebs-Tod seiner aus Laos stammenden Mutter spielte in André Kubiczeks letztem Roman, "Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn", gleichfalls eine Rolle. Man sollte weder den einen noch den anderen Roman als autobiografischen Bericht lesen. Was allerdings bemerkenswert ist: André Kubiczek ist der seltene Fall eines Schriftstellers, dem die erste Person als Erzählhaltung sehr viel mehr liegt als die dritte Person. "Skizze eines Sommers" ist deutlich lebhafter und eindringlicher als der viel beachtete Debütroman "Junge Talente". Der mag historisch genauer sein, aber es fehlt ihm die eigene Stimme. In allen sechs Romanen André Kubiczeks lässt sich die Probe aufs Exempel machen. Mit "Skizze eines Sommers" hat er seinen Ton genau getroffen: er ist ebenso lässig wie existenziell.

André Kubiczek: Skizze eines Sommers. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016. 378 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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