Serie: Was bewegt Afrika? Teil 8:Aufstand gegen sich selbst

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Die Wut ist in Afrika ein Erbe der Kolonialzeit - sie hat nicht abgenommen, doch heute richtet sie sich gegen so viel mehr als nur die Unterdrücker.

Von Tobias Zick und Tim Neshitov

Um die Bühne des Shrine Clubs im Osten von Lagos herum hängen die Porträts afrikanischer Freiheitshelden: Nelson Mandela, Patrice Lumumba, Thomas Sankara. Schwaden von Grasgeruch füllen den Raum. Nach und nach betreten die Musiker die Bühne, beginnen die Musik, mehr als zwei Dutzend werden es am Ende sein, Gitarristen, Trommler, Blechbläser, und schließlich Femi Kuti, der Zeremonienmeister, wechselnd zwischen Saxofon und Gesang. "Afrika wird frei sein", ruft er. "Afrika wird sich vereinen. Eines Tages! Irgendwann!"

Femi Kuti ist der Sohn des legendären nigerianischen Musikers Fela Kuti, der wiederum der Gründer des Afrobeat war, einer Mischung aus Funk, Rock, Jazz und afrikanischen Rhythmen. Zwei Jahrzehnte hatte Fela Kuti die Hafenstadt Lagos aufgemischt, im Shrine, seinem düsteren, hangarartigen Klub. Und genau hier tritt sein Sohn Femi auch heute auf. Der Klub heißt inzwischen New Africa Shrine. Wer hier ein Konzert der Erben Felas besucht, bekommt mehr als ein Konzert zu sehen. Hier werden in einem Ritual, das bis in die Morgenstunden dauern kann, all die guten, gerechten Geister Afrikas zusammengetrommelt.

Femi Kuti beschwört eine Zukunft herauf, in der die Polizei einen nicht mehr um das wenige Geld erpresst, das einem die steigenden Lebensmittelpreise noch lassen, eine Zukunft, in der keine Terroristen Hunderte Schulmädchen entführen können, während die eigene Armee gleichgültig zuschaut.

Fragt man ihn, was sich in den vergangenen zwanzig Jahren denn verändert habe, sagt er, mit dem "Aufstieg Afrikas" könne er nichts anfangen, den Wirtschaftsmagazine herbeischrieben: "Afrikas Aufstieg? Für wen denn? Die Regierungen nehmen ein bisschen von dem Geld, das sie gestohlen haben, und geben es ein paar jungen Leuten, damit die ein Business aufziehen können. Aber wo sind unsere Krankenhäuser? Unsere Straßen? Die Eisenbahnen?"

Die Wut ist groß in Afrika. In der Familie Kuti ist sie so etwas wie Tradition. Auf den Straßen des Kontinents entlädt sie sich an immer neuen Orten. In Burundi sterben Menschen bei Protesten gegen den Präsidenten, der sich über die Verfassung hinwegsetzt. In Südafrikas Townships werden Migranten ermordet. Das eine hat mit dem anderen erst einmal nicht viel zu tun, doch postkolonialer Ärger sei eine gesellschaftliche Konstante, die den Kontinent präge, schreibt der kamerunische Philosoph Achille Mbembe, der heute wohl wichtigste Theoretiker des Postkolonialismus. In der "Kritik der Schwarzen Vernunft", seinem Hauptwerk, argumentiert er, dass Gesellschaften, die einmal rassistisch ausgebeutet wurden, noch mehrere Generationen lang an den Folgen dieser Unterdrückung leiden. Mbembes Ideal ist "eine Welt, die befreit ist von der Last der Rasse und des Ressentiments und des Wunschs nach Rache, die jeder Rassismus auslöst". Un intellectuel en colère, einen wütenden Intellektuellen, nennt der kongolesische Schriftsteller Alain Mabanckou den Philosophen Mbembe.

Mabanckou ist selbst ein Chronist der spannungsbeladenen afrikanischen Tristesse, in Frankreich reichlich mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Als vor zehn Jahren die Vorstädte von Paris brannten, schrieb Mbembe, durch diese Aufstände könnten nun auch die Europäer unmittelbar die afrikanische Wut spüren, eben exportiert durch Massenauswanderung.

Als im Arabischen Frühling der Volkszorn einen Herrscher nach dem anderen wegfegte, stellte sich die Frage: Springt dieser Funke vom Norden Afrikas auch auf die Länder südlich der Sahara über? Ähnlich wie in Ägypten, Libyen, Tunesien herrschten auch dort Armut, Willkür, Ausweglosigkeit - und dazu die verbreitete Vorstellung, dass das ganze Elend irgendwie mit dem kolonialen Erbe zusammenhängt. Wut auf die Europäer. Auf die Wirtschaftsmultis (die Kolonisatoren von heute). Auf die eigenen starken Männer, die sich vor starken Institutionen fürchten.

Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude von Burkina Faso in Ouagadougou - der Philosoph Achille Mbembe sieht kein Ende der Wut. (Foto: Issouf Sanogo/AFP)

Ein afrikanischer Frühling blieb aus. Weder Robert Mugabe in Simbabwe, noch sein kamerunischer Kollege Paul Biya mussten gehen, und die Ölmilliarden in Nigeria fließen immer noch in die Taschen einiger weniger. Manchmal lenken die Herrscher den angestauten Ärger sogar geschickt auf politische Gegner, wie in Simbabwe. In Burkina Faso, der Heimat des wohl beliebtesten Revolutionärs Afrikas, des 1987 ermordeten Staatschefs Thomas Sankara, hat die jüngste Welle des Protests immerhin den altersmilden Autokraten Blaise Compaoré aus dem Amt gespült.

Der Musiker Smockey alias Serge Bambara, ein Verehrer Sankaras und 2010 zum besten Hip-Hop-Künstler Afrikas gewählt, hatte jahrelang gegen den Autokraten angesungen und zuletzt die Straßenproteste gegen ihn angeführt. Heute sagt er, "la colère" in der Gesellschaft werde trotzdem nicht so schnell abnehmen. "Uns ist es gelungen, daraus etwas Konstruktives zu machen, es gab kein Blutbad. Aber die Menschen sind sehr angespannt, denn Compaoré ist zwar weg, aber das System Compaoré ist noch da, all die Seilschaften, der Einfluss Frankreichs. Wir haben die Sorge, dass ein Monster am Ende einfach durch ein anderes ersetzt wird."

Zuletzt mag sich in Afrika tatsächlich einiges zum Besseren gewendet haben, aber die Ursehnsucht nach Würde und Selbständigkeit bleibt die gleiche. Der Nigerianer Fela Kuti brachte einst das Blut sehr vieler Menschen von Lagos bis Pretoria in Wallung. Er sang gegen Korruption und Militärwillkür an, sehr direkt, in your face, und der Staat schlug zurück auf eine Art, die heute nicht mehr vorstellbar ist.

1977 stürmten über tausend Soldaten Fela Kutis Kommune in Lagos, die "Kalakuta Republic", steckten sein Haus in Brand und warfen seine Mutter aus dem Fenster. Sie starb später an den Verletzungen. 1984 wurde der Sänger unter Schmuggel-Vorwürfen ins Gefängnis gesteckt. Es war die Zeit, als der Militärdiktator Muhammadu Buhari das Land regierte - der selbe Muhammadu Buhari, der gerade die Präsidentschaftswahl in Nigeria gewonnen hat, angeblich als Geläuterter, als Demokrat. 71 Jahre alt ist er nun.

Fela Kuti starb 1997 an Aids. Aber das Wut-Gen hat er vererbt. Sein jüngster Sohn Seun brachte mitten im Arabischen Frühling ein Album mit folgendem Titel heraus: "From Africa With Fury: Rise". Ein Gruß des Zorns aus Afrika: Erhebt euch. Einige Zeilen könnten auch aus den Siebzigerjahren stammen, der bittersten Phase des Postkolonialismus. "We must rise up I say", singt Seun Kuti da. Man müsse sich erheben: "Gegen Ölunternehmen, die unser Öl nehmen, um unser Land zu zerstören. Gegen Diamantenfirmen, die unsere Brüder als Sklaven einsetzen. Wir müssen uns gegen unsere afrikanischen Herrscher erheben." Er singt von amerikanischen Konzernen wie Monsanto und Halliburton ("Sie nutzen ihre Lebensmittel, um meine Menschen hungrig gehen zu lassen"). Man solle in Afrika selbst Lebensmittel anbauen und man solle seine Kinder endlich zur Schule schicken. "Rise rise rise up!"

Seuns älterer Bruder Femi ist da nüchterner. Warum Afrika nicht vom Fleck kommt? Da kommt er auf etwas zu sprechen, worüber man sich als Afrikaner bestimmt sehr ärgern kann, womit man aber als Musiker keine Hallen füllt: Die Wut auf sich selbst. "Wir haben unsere geistige Gefangenschaft im kolonialen System nie wirklich aufgearbeitet. Wir bevorzugen noch immer koloniale Namen gegenüber afrikanischen. Und wir sprechen bis heute von Kolonialherren. Diejenigen, die kamen, um unsere Vorfahren zu töten und ihre Frauen zu vergewaltigen: Die nennen wir Herren statt Mörder. Kann man da behaupten, wir seien wirklich frei?"

(Foto: N/A)

Es ist ja nicht so, dass die Generation von Fela Kutis Kindern - Femi ist inzwischen 52 Jahre alt - den postkolonialen Selbsthass als erste diagnostiziert hätte. Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o, schon seit Jahren Anwärter auf den Nobelpreis und geboren im Jahr 1938, fordert Menschen in Afrika seit Jahrzehnten auf, ihren Geist zu dekolonisieren. "Decolonizing the Mind" heißt sein programmatischer Essay von 1986. Das schlimmste Elend bestehe darin, dass die Afrikaner ihre Muttersprachen nicht pflegten und stattdessen auf Englisch, Französisch, Portugiesisch schrieben - und deswegen auch europäisch dachten. Seine wichtigsten Romane schrieb Thiong'o deswegen in seiner Muttersprache Kikuyu.

Thiong'os ganz persönliches Elend als Schriftsteller besteht allerdings darin, dass man mit Kikuyu kein Weltpublikum erreicht, geschweige denn die Juroren des Nobelpreises, sondern im besten Fall acht Millionen Leser in Ostafrika. Deswegen übersetzt Thiong'o seine eigenen Werke eigenhändig ins Englische. Sein episches Opus Magnum "Herr der Krähen" von 2006 ist eine bittere, wiewohl liebevolle Abrechnung mit einem Kontinent, der sich geistig und physisch ausbeuten lässt. Thiong'o wurde seinerseits vom Diktator Daniel arap Moi aus Kenia hinausgeekelt und unterrichtet heute Literatur in Kalifornien. Sein Besuch in der Heimat 2004 endete damit, dass er und seine Frau von maskierten Männern zusammengeschlagen und ausgeraubt wurden. Seine Frau wurde vor seinen Augen vergewaltigt.

Afrikanische Künstler sehen sich im globalen Zusammenhang: Europa hat ähnliche Probleme

Natürlich lässt sich nicht jeder Gewaltausbruch in Afrika auf postkoloniale Wut zurückführen, geschweige denn damit rechtfertigen. Die Regisseurin Fanta Nacro aus Burkina Faso spürt in ihrem Film "Die Nacht der Wahrheit" der Frage nach, wie Menschen ihre Menschlichkeit verlieren. In einem unbenannten Land irgendwo in Afrika kommen Anführer zweier verfeindeter Ethnien zusammen, die sich seit zehn Jahren gegenseitig massakrieren. Bei dem feierlichen Abendessen soll Frieden geschlossen werden. Stattdessen wird einer der Anführer gefasst und über offenem Feuer gegrillt. Seine Peinigerin: eine Frau, die den Tod ihres Sohnes rächen will.

Der eigene Onkel der Regisseurin, ein Soldat, wurde auf exakt diese Art getötet. Der Film ist ein Versuch, dieses Familientrauma zu verarbeiten. Den Anstoß bekam Fanta Nacro allerdings, als sie eine Dokumentation über den Genozid in Bosnien sah. Sie sagt, der Film handle von menschlicher Grausamkeit, die sich überall auf der Welt zeige, nicht nur in Afrika.

Femi Kuti, der Musiker aus Lagos, versichert, er wolle keine blutigen Umstürze auslösen. "Ich mache keine Soundtracks für Revolutionen, ich will die Leute zum Denken anregen, zum Hinterfragen." Und dann spricht auch er auf einmal von der ganzen Welt, als könne man Afrika nur im globalen Kontext verstehen. Das letzte Album, sagt er, sei beileibe nicht nur von afrikanischen Krisen inspiriert: "Bei euch in Europa verarmen immer mehr junge Leute. Es gibt so viele Arbeitslose. Ich verfolge die Nachrichten aus Griechenland, Portugal, Spanien." Länder, in denen Femi Kuti viele Fans hat. "Meine bescheidene Hoffnung ist, dass ich auch denen mit meiner Musik ein bisschen Mut geben kann."

Es folgt Teil 9: (Aber)Glaube. Wahrsager, Heiler, Zauberer - wie groß ist ihr Einfluss?

© SZ vom 29.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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