Serie: Bewegte Mitte:Verteilungskämpfe à la française

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Der französische Soziologe François Dubet, geboren 1946, unterrichtet Soziologie an der Universität Bordeaux-II. Er spricht über die stille Panik der Mittelschichten, Geschmack als Statussymbol und Bildung als Machtmittel.

interview Von Alex Rühle

Sie gilt als Garant für Stabilität, ja, als Gradmesser für die demokratische Verfasstheit eines Landes schlechthin: die Mittelschicht. Umso größer das Erschrecken, wenn diese Mitte meldet: Es geht uns schlecht. Eine Serie im Feuilleton prüft, warum das so ist. Wie wichtig ist die Mittelschicht für das Wohl eines Landes? Und was, wenn sich immer größere Teile politisch radikalisieren? Fragen an den französischen Soziologen François Dubet.

SZ: Wenn ich als deutscher Journalist Mittelklasse sage, meine ich dann dasselbe wie Sie als französischer Soziologe?

François Dubet: Es gibt große Gemeinsamkeiten. Zum einen, als wir beide von einer sehr heterogenen Schicht reden - sie umfasst Angestellte, Selbständige, Beamte und viele andere -, die permanent zwischen rechts und links schwankt und lange als politisch stabilisierendes Element galt. Und unser Bild der Mittelklasse wurde enorm von der Nachkriegszeit geprägt. Während der Trente Glorieuses ( das frz. Pendant zum Wirtschaftswunder, die ersten 30 Jahre der Nachkriegszeit, Anm. d. Red.) gab es eine "Vermittelschichtung" der ganzen Gesellschaft: Immer mehr Beamte und Angestellte, immer mehr Abiturienten und Studenten, viele Frauen stiegen erstmals nicht dank Heirat auf, sondern weil sie Studium und Beruf haben. In ganz Europa war das das goldene Zeitalter der Mittelschicht. Die Arbeiterklasse verbürgerlichte, die Mehrheit der Franzosen fühlte sich der Mittelschicht zugehörig. Was ja dank des Wachstums ein kollektives Aufstiegsversprechen beinhaltete: Uns geht es besser als unseren Eltern, und unseren Kinder wird es noch besser gehen.

Aber diese so stabile wie optimistische Beschreibung der Mittelklassewelt gilt doch in Zeiten von Brexit, Trump und Le Pen gar nicht mehr.

Natürlich nicht - auch wenn sich immer noch eine riesige Mehrheit der Gesellschaft als Teil der Mittelschicht fühlt. Die ist nicht verschwunden, fühlt sich aber geschwächt, weil der Mechanismus kaputt ist, der so lange für den sozialen Aufstieg sorgte. Während es früher fließende Übergänge zwischen Arbeiterschaft und Mittelschicht gab, tut sich da heute ein tiefer Graben auf. Die Unterschicht bleibt arm, lebt in prekären Verhältnissen und ist oft identisch mit den Einwanderermilieus. Gerade die untere Mittelschicht will sich um jeden Preis von diesen Milieus und den Banlieues absetzen. Man sieht deshalb immer größere soziale Unterschiede zwischen einzelnen Stadtvierteln, ja es gibt richtiggehende räumliche Segregation.

Die Stimmung in Frankreich ist schlechter als in anderen europäischen Ländern. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt in Frankreich eigentlich wenig tatsächliche Deklassierung. Aber es gibt eine kollektive stille Panik. Die untere Mittelklasse hat Angst davor, in die Unterschicht abzurutschen, die obere Mittelschicht fürchtet sich davor, in die untere Mittelklasse wegzurutschen. Und insgesamt hat die Mitte das Gefühl, alleingelassen worden zu sein zwischen zwei Extremen.

Inwiefern?

Viele Mitglieder der Mittelschicht haben das Gefühl, dass sie alleingelassen wurden zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen, mit denen sie nichts gemein haben. Die alte Arbeiterklasse wurde abgelöst von einer Unterschicht, die assoziiert wird mit den Banlieues, mit Einwanderung, Armut, Kleinverbrechen. Wir sprechen darüber ähnlich angstbesetzt, wie im 19. Jahrhundert über die "gefährlichen Klassen" geredet wurde, die angeblich die soziale Ordnung bedrohen. Auf der anderen Seite werden die Wirtschaftsführer nicht mehr als nationale Bourgeoisie wahrgenommen, sondern als kosmopolitische Superreiche, die mit ihrem eigenen Land nichts mehr zu tun haben wollen. Die Mittelschicht hat das Gefühl, dazwischenzustehen, bedroht und allein.

(Foto: SZ)

Die Parti Socialiste unter Hollande gibt diesen Menschen aber ja auch keine Heimat mehr.

Ja. Viele ehemalige Stammwähler der Sozialdemokraten und Kommunisten sind zur extremen Rechten abgedriftet. Sie lehnen die Globalisierung genauso ab wie Europa, misstrauen allen Ausländern und Flüchtlingen und klammern sich jetzt an den Begriff der "Nation". Ein anderer Teil der Mitte ist fasziniert von der extremen Linken, wünscht sich einen starken Staat zurück, der sie bitte schützen soll, und agitiert gegen das liberale, globalisierte, kapitalistische Europa.

Sind die von Ihnen erwähnte Abstiegsangst und die Verteilungskämpfe die eigentlichen Motive hinter den Streiks, die Frankreich seit Monaten lahmlegen?

Diese Streiks werden so erbittert durchgezogen, weil die französischen Gewerkschaften, die im Großen und Ganzen mittlerweile schwach sind, nur noch im öffentlichen Sektor sehr mächtig sind. Aber eigentlich verteidigen alle Mittelstandsberufe ihre Position in einem System, das durch protektionistische Reglementierungen bestimmt wird.

Ihr Kollege Didier Eribon schreibt in seinem autobiografischen Buch "Rückkehr nach Reims" davon, wie er sich immer für seine Herkunft aus einfachen Verhältnisse geschämt habe. Kann es sein, dass in Frankreich die Milieu zugehörigkeit noch wichtiger ist als anderswo?

Das Besondere an der französischen Mittelschicht ist, dass sie so immensen Wert legt auf kulturelle Differenz. Für ein Land, dem doch die Gleichheit angeblich so wichtig ist, machen wir enormes Aufheben um Hierarchien und kulturelle Distinktion. Nicht die Höhe des Gehalts entscheidet darüber, ob man der Mittelschicht angehört, sondern der Geschmack, der Stil und der Studienabschluss. All das also, was Abstand herstellt zur "Vulgarität" der Unterschicht.

Gilt das nicht für alle westlichen Gesellschaften?

In anderen Ländern mögen andere Distinktionsmerkmale wichtiger sein, die Anzahl der Follower in den sozialen Netzwerken, Geburt, Akzent, Vermögen, alle aber eint ein großer Abstand von und eine genauso große Verachtung für die Unterschicht.

Klingt nach Pierre Bourdieus Feststellung vom "Geschmack als bevorzugtem Merkmal von Klasse".

Ja, man gehört der Mittelschicht an durch das Viertel, in dem man wohnt, die Dinge, die man einkauft, den Sport, den man betreibt, die Musik, die man hört. In erster Linie wollen sich die Mittelschichten abheben von allem, was angeblich unmoralisch oder ordinär an der Lebensart der Arbeiter und Bauern ist. Die Französische Revolution hat die aristokratischen Ideale nicht ausmerzen können. Die haben sich einfach in den sozialen Wettbewerb und die kulturellen Geschmäcker verlagert.

Welche Rolle spielen dabei die Schulen?

Eine ganz zentrale. Nach der Revolution und in der Dritten Republik wurde der schulische Erfolg als einziges legitimes Mittel angesehen, um in die Elite aufzusteigen. Jean-Paul Sartre nannte das Abitur "das Eintrittszeugnis in die Bourgeoisie". Während in den USA der wirtschaftlich erfolgreiche Selfmademan als Personifizierung des Erfolgs gilt, ist es in Frankreich der Bafög-Empfänger, der sich am Ende dank seines Diploms aus seiner niederen Herkunft freikämpft.

Aber Sartres Satz hat doch gar keine Gültigkeit mehr, weil ein gutes Abitur heute keinen guten Job garantiert.

Ja. Auf der einen Seite ist die Zahl der Abschlüsse in den Achtzigerjahren geradezu explodiert. Die Zahl der qualifizierten Jobs hat aber kaum zugenommen. Es reicht also nicht mehr, zu studieren, um Zugang zur Mittelschicht zu bekommen oder diesen Status auf Dauer zu halten. Man muss einen sehr guten Abschluss machen, am besten in einem Spezialstudiengang, und danach immer neue Zusatzqualifikationen erwerben. Das Urvertrauen der Mittelschicht in ihre Diplome, die fast automatisch sozialen Erfolg garantierten, ist einer Versagens- und Abstiegsangst gewichen: Was soll nur werden aus unseren Kindern? Das hat den schulischen Wettbewerb und die Absetzbewegungen von der Unterschicht extrem verschärft.

Wer ist denn die treibende Kraft hinter der Protestbewegung "Nuit Debout"?

Das ist ausschließlich eine Bewegung der jungen, gut ausgebildeten Mittelschicht, die Angst davor hat, nicht die Positionen zu erreichen, die ihnen doch eigentlich durch ihre Ausbildung zustehen, und die deshalb jetzt den Kapitalismus kritisieren. Die jungen Leute aus der Banlieue oder aus der Unterschicht haben damit nichts zu tun. Sie haben ganz andere Codes und Ziele. Sie wären einfach nur gern Teil der Gesellschaft und kritisieren in erster Linie die tägliche Diskriminierung.

All die Abstiegsängste scheinen in Großbritannien jetzt zu einem wirklichen Abstieg zu führen . Und es ist ja gerade die verarmte untere Mittelschicht, die so vehement für den Brexit gestimmt hat , die allen Prognosen nach am meisten leiden wird. Wie wird darüber in Frankreich diskutiert?

In der Tat, das Phantasma eines französischen EU-Ausstiegs ist besonders stark ausgebildet bei all jenen, die zu Opfern der Globalisierung wurden oder sich als solche sehen und meist gar nicht wissen, was ihnen Europa alles gebracht hat, denken Sie nur an die Bauern.

Marine Le Pen jubelt, der Brexit sei hinsichtlich seiner positiven Auswirkungen nur mit dem Fall der Berliner Mauer zu vergleichen. Glauben Sie, dass bald ein Frexit-Referendum kommt?

Schwer zu sagen, was der Front National macht. Aber ich denke, der Brexit wird die Referendums-Befürworter eher schwächen, schließlich wird sich schon bald zeigen, was der Ausstieg aus der EU für Konsequenzen nach sich zieht. In Frankreich wirken die Antieuropäer momentan verunsichert. Ich sehe übrigens auch in Spanien, dass der Brexit die Podemos-Bewegung stark geschwächt hat, die ja mit dem EU-Austritt geflirtet hat, den die Spanier einfach nicht wollen. Aber wenn der Brexit negative Auswirkungen auf Europa hat, dann kann es sein, dass wir auch bald ein Referendum haben - und da die Leute ja solche Wahlen immer auch als Denkzettel benutzen, ist dann alles möglich.

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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