Seelower Höhen:Unbegreiflicher Frieden

Lesezeit: 3 min

Fast träumerisch blickt der Soldat, ein Werk Lew Kerbels, von den Seelower Höhen in die Ferne. (Foto: imago/Ulli Winkler)

Im Kampf verloren hier 30000 Sowjetsoldaten ihr Leben. Das Denkmal ist heute ein moderner Erinnerungsort.

Von Gustav Seibt

Grausam und verlustreich war die Schlacht auf den Seelower Höhen, mit der sich die Sowjetischen Truppen vom 16. bis zum 19. April 1945 den Weg nach Berlin freikämpften. Eine siebzig Meter über das Oderbruch aufragende Anhöhe, die mit dreifach gestaffelten deutschen Verteidigungslinien bewehrt war, musste bezwungen werden. Marschall Schukow, der sowjetische Befehlshaber, beging dabei zwei Fehler: Er setzte beim Nachtangriff große Flugplatzscheinwerfer ein, die die eigenen Leute blendeten und den von oben feuernden Deutschen ihre Ziele in grelles Licht rückten; und er warf zu viele Truppen gleichzeitig auf den feuchten, längst von Granaten und Bomben zerwühlten Boden des Bruchs, vor allem ließ er die Panzer viel zu früh rollen. Die Folge waren Chaos und Stillstand, bei fortwährendem Beschuss von den Deutschen.

Dreißigtausend Sowjetsoldaten verloren in diesen drei Tagen ihr Leben. In einer Broschüre der DDR-Zeit hieß es: "War einer, dem hatte die Frau ein Söhnchen geboren. War einer, der fiel auf's Gesicht, ohne Schrei, wie gefällt. War einer, der schrie aus dem Leib sich die Schmerzen der Welt." Mit solchen Sätzen wurden bis 1989 Besucher der "Gedenkstätte der Befreiung" eingestimmt. Dazu war das Siegesdenkmal geworden, das schon am 27. November 1945, nur ein halbes Jahr nach der Schlacht, fertiggestellt wurde. Das monumentale, später mit einem Friedhof und einem Museum ergänzte Mahnmal ist der älteste der sowjetischen Erinnerungsorte auf deutschem Boden.

Es wird überragt von einer vier Meter hohen, über einem künstlichen Felsen errichteten Bronzestatue eines Soldaten mit Gewehr vor der Brust, der sich majestätisch auf einen abschüssigen deutschen Panzer stützt. Die edel stilisierte Heldenfigur blickt fast träumerisch in die Ferne nach Osten, in Richtung Russland. Ihre klassische Haltung ist das Werk des Bildhauers Lew Kerbel und seines Mitarbeiters Wladimir Zigal, die beide 1917 zur Welt kamen. Zigal lebt noch, Kerbel starb 2003. Den Bronzeguss besorgte die Gießerei Noack in Berlin-Wilmersdorf, von der auch die Repliken der Schadow-Quadriga auf dem Brandenburger Tor stammen. Gräber von 66 Soldaten umgeben das Heldendenkmal an seinem Fuß. Ein Friedhof balanciert das Zeichen des Triumphes. So entsteht eine Spannung zu dem Kriegsschrecken, von dem die Gestalt des Soldaten nichts ausdrückt. Schreckliches hatten die sowjetischen Soldaten auf ihrem Vormarsch nach Berlin gesehen, erlitten und oft auch getan. Von alten Frauen im Oderland kann man heute noch den Satz hören: "Wer hier 1945 erlebt hat, glaubt nicht mehr an Gott." Dabeisitzende Männer bleiben stumm. Das Erste, was die Sowjets nach der Überschreitung der Oder sahen, waren die an den Wegrändern aufgehängten Leichen angeblicher deutscher Deserteure, denen die Nazis Schilder umgehängt hatten, die sie als "Verräter" bezeichneten. Hinter den Russen lagen von den Deutschen zerstörte Länder, das verwüstete Polen, das Wissen vom hunderttausendfachen Hungertod der russischen Gefangenen, Majdanek und Auschwitz, die Todesfabriken, die die Deutschen nicht mehr hatten unsichtbar machen können. Die sowjetischen Exzesse auf dem Weg nach Berlin waren unentschuldbar, aber nicht unbegreiflich. Die feierliche Stille im Denkmal bei Seelow, die so gut zur schon von Fontane gepriesenen Friedlichkeit der Oderlandschaft passt, dämpft diesen Schrecken. Seit 2003 gedenkt auch die orthodoxe "Mutter Kirche" mit einem Kreuz ihrer gefallenen Söhne.

Eine Betontreppe abwärts kommt die erlittene Geschichte unmittelbar zur Anschauung. Seit 1972 steht sowjetisches Kriegsgerät auf einem Vorplatz, darunter ein Panzer des Typs T-34/85. Ein flacher Museumsbau wurde errichtet, dessen Holzverkleidung einen Gefechtsstand imitiert. Die 2012 erneuerte Ausstellung behandelt beides: den Krieg und die Geschichte seiner Erinnerung hier. So wird aus Siegesdenkmal und Trauerstätte ein moderner "Erinnerungsort". Überlebende und Nachfahren besuchen ihn heute zwar seltener, aber wohl auch nachdenklicher als die insgesamt 130 000 Menschen, die die DDR zu politischer Belehrung und zu oft nächtlichen Andachtsfeiern heranschaffte.

Die Ausstellung wird beiden Seiten gerecht. Auf Bildschirmen kann man die Berichte von Deutschen und Russen abhören, von Soldaten und Zivilisten. Uniformen und Waffen beider Seiten liegen in unbegreiflichem Frieden nebeneinander. Die in der DDR durch Übersetzungen weit verbreitete Kriegs- und Erinnerungsliteratur liegt ebenso aus wie Theodor Pliviers wuchtige Romane. Dass die Bemühungen um Gerechtigkeit nicht erfolglos sind, zeigt der jährliche Besuch des russischen Botschafters am Jahrestag der Schlacht. Kranz und Blumen vom 19. April 2015 liegen noch am Fuß des Denkmals.

Die Landschaft zu Füßen der Anhöhe hat sich vom Schrecken erholt. Wer sich als Fahrradfahrer von Küstrin kommend die Anhöhe hochstrampelt, ahnt einen Bruchteil der Strapazen der Kämpfer von 1945. Doch Jahr für Jahr finden die Landwirte in den Äckern Uniformteile, Waffen und Menschengebein. 169 Friedhöfe und Gedenkstätten säumen das Ufer der Oder, auf der anderen Seite gedenken die Polen ihrer Soldaten. Sie fanden erstmals 1985 auch in der DDR-Ausstellung in Seelow Erwähnung.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: