Seefahrt:Stockfisch und Hermelin

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Einstieg über die Latrine, Aufstieg zum Handelsimperium: In Lübeck eröffnet das Museum zur Geschichte der Hanse.

Von Till Briegleb

Es beginnt mit einer Backsteinkloake. Dieser Endort der menschlichen Nahrungskette nimmt alle Besucher des neuen Europäischen Hansemuseums in Empfang, nachdem sie aus dem Foyer mit einem gläsernen Aufzug in den Keller hinabgesenkt wurden - auch Angela Merkel, die am Mittwoch diese Neugründung in Lübeck feierlich eröffnet hat. Natürlich ist die Sickergrube leer und außerdem aus dem 15. Jahrhundert. Trotzdem mag es unschön wirken, dass der lange Parcours durch die 500-jährige Geschichte des niederdeutschen Handelsimperiums mit einem Fäkal-Behältnis beginnt, aber das hat durchaus einleuchtende Gründe.

Die Geschichte der Hanse beginnt mit einer Reise von Kaufleuten nach Nowgorod

Zunächst kann das Schmutzgrab an Thomas Hobbes berühmten Satz aus dem "Leviathan" erinnern, der für die allermeisten Menschen des Mittelalters galt: "Das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz." In diesem Sinne bereitet die Kloake atmosphärisch die Themen "Pest" und "Armut" in der späteren Ausstellung vor, belegt dagegen aber auch die wegweisenden hygienischen Standards, die der Senat für die "Königin der Hanse" durchsetzte. Wegen seines umfassenden Entsorgungssystems galt Lübeck im Mittelalter als "relativ saubere Stadt".

Vor allem ist der gemauerte Abwassertank aber Teil einer großen Ausgrabungsstelle, die bei den Gründungsarbeiten 2011 freigelegt wurde. Am Rand des Klosterhügels an der Trave, der als Bauplatz für das überwiegend privat von der Lübecker Possehl-Stiftung finanzierte, 50 Millionen Euro teure Museum diente, fanden sich Zeugnisse der Siedlungsgeschichte Lübecks seit dem 8. Jahrhundert. Und diese authentische Fundstelle ist ein echter Glücksfall für ein Museum, das als Neugründung nicht mit spektakulären Exponaten glänzen kann. Die Collage aus slawischen Siedlungsresten, mittelalterlichen Klosterräumen und einer Bohrpfahlwand zur Hangsicherung von 1988 besitzt die Aura des Authentischen, die danach durch aufwendige Rekonstruktionen ersetzt werden muss.

Der Hamburger Architekt und Ausstellungsgestalter Andreas Heller, der bereits im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven bewiesen hat, wie man einen Mangel an interessanten Objekten durch gut recherchierte Inszenierung wettmacht, setzt dieses Prinzip in Lübeck in großem Maßstab fort. Mit dem Anspruch, den neuesten Forschungsstand detailgetreu wiederzugeben, wird eine historische Messe aus Brügge inklusive toter Hermeline und exakt nachgewobener Stoffe ebenso rekonstruiert wie ein Stockfischkontor aus Bergen oder die alte Lübecker Hansehalle. Und für den Raum, der die Expedition einer niederdeutschen Kaufmannsdelegation nach Nowgorod 1193 und damit den Beginn der Hanse zeigt, haben Schiffsbauer eine der damals üblichen Koggen originalgetreu nachgebaut.

Zwischen diesen begehbaren Dioramen befinden sich klassische Vitrinenzimmer mit kulturgeschichtlichen Leihgaben sowie viele Faksimiles von Urkunden, die nicht im Original ausgestellt werden können. Später einmal wird der Wissensdurstige auch gesättigt mit zahlreichen Monitoren, falls die per Schiff gelieferten Bildschirme, die sich zur Eröffnung noch irgendwo auf See befanden, einmal geliefert sind. Mit einem interaktiven Ticket kann jeder Besucher dann spezielle Beiträge zu Städten und Themen abrufen.

Der Neubau vom Studio Andreas Heller passt sich den historischen Bauten gut an

Trotz dieser illusionistischen Anmutung ist das neue Hansemuseum kein Erlebnispark für Mittelalter-Fans. Der Verherrlichung der Städtegemeinschaft als ein Konglomerat, "das schon damals war, was die EU heute sein möchte" - wie es Lübecks Bürgermeister Bernd Saxe stolz verkündete -, wird in der Ausstellung fundiert widersprochen. Lisa Kosok, die Gründungsdirektorin, die vom stadtgeschichtlichen Museum in Hamburg abgeworben wurde, zeigt dagegen, dass die Kaufleute der Hanse mit ihren aggressiven Methoden und ihrer Prahlsucht in Europa "keineswegs beliebt" gewesen sind. In dem Einflussgebiet, das von Russland bis Flandern reichte, benahmen sie sich ähnlich rücksichtslos wie der Deutsche Orden, nur dass sie nicht mit dem Schwert missionierten, sondern mit Handelsblockaden erpresserisch ihre Privilegien durchsetzten. Wie das possierliche Bild von den ehrenhaften Kaufleuten, den vernünftigen Hanseaten und der Globalisierung auf Holzplanken entstehen konnte, zeigt der zweite Teil der Ausstellung. Als propagandistisches Konstrukt des Kaiserreichs, um eine "deutsche Seeherrschaft" aus der Geschichte herzuleiten, wurde die Hanse im 19. Jahrhundert zu einem nationalen Mythos verklärt, der trotz der verschärften Instrumentalisierung durch die Nazis auch nach dem Krieg nichts von seinem romantischen Flair verloren hat.

Diese detaillierte Rezeptionsgeschichte ist untergebracht in einem ehemaligen Gerichtsgebäude aus dem 19. Jahrhundert, das zusammen mit einem beeindruckend restaurierten Dominikanerkloster Teil des neuen Museums ist. Der Neubau vom Studio Andreas Heller am Fuß des Hügels fügt sich in dieses Ensemble durch eine Art affirmativer Moderne. Ein speziell gebrannter Klinker von unregelmäßiger Form und Farbe sowie eine perforierte Giebelwand bekunden den Respekt vor der Altstadtarchitektur der Backsteingotik, während die eigentliche Gebäudeform in ihrer schlichten Kubatur die Sachlichkeit der Moderne für sich in Anspruch nimmt.

Und damit steht das neue Gebäude symbolisch für die Haltung dieses durchaus gelungenen Unterfangens, einen Wirtschafts- und Kulturmythos zwischen Erlebnis und Kritik, Artefakt und Inszenierung, Spaß und Wissenschaftlichkeit auszubalancieren - um schließlich dann doch klar zu sagen: Als Vorbild für das heutige Europa taugt diese kaufmännische Interessengemeinschaft sicher nicht.

© SZ vom 28.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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