Schauspiel:Bier gegen den Schmerz

Lesezeit: 5 min

Das Bühnenbild von Aleksandar Denić zeigt die Berliner Volksbühne als Bretterbude, darauf leuchtet eine Reklame für Coca-Cola. (Foto: Matthias Horn)

Warum ist das so, dass die Menschen sich totschlagen? Frank Castorf inszeniert am Münchner Residenztheater Jaroslav Hašeks Roman "Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg".

Von Egbert Tholl

Es beginnt mit einer Lektion in Geschichte. Der Schauspieler Paul Wolff-Plottegg hält einen schizophrenen Monolog, erzählt davon, dass die "uns nun also den Ferdinand" umgebracht haben, den Erzherzog, und dann kommt er auf Serbien und die Türken zu sprechen, auf mögliche Bündnisse im nun zu erwartenden Krieg, der ein Gemetzel werden wird, so viel ist sicher. Die mäandernde Denkart dieses Monologs rührt daher, dass Wolff-Plottegg in diesem Moment mehrere Figuren in sich vereint, Figuren, mit denen Jaroslav Hašek in seinem Roman vom Švejk die Eingangsszene im Wirtshaus bevölkert. Zwar ist Wolff-Plottegg nicht allein, aber die anderen hören nur zu, auch Aurel Manthei, der den Švejk spielt, in einer Schubkarre sitzt und raucht.

Amerika kann den Geschmack ruinieren, dachte sich Hašek schon 1921

Frank Castorf inszeniert Jaroslav Hašeks Roman "Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg", und auf der Bühne des Münchner Residenztheaters steht das Haus der Berliner Volksbühne. Aleksandar Denić hat es dort aufgebaut, wie er zuletzt fast immer die räumlichen Phantasmagorien für Castorfs Gedankenabenteuer entwarf. Unter den vielen Referenzen, die man in den knapp fünf Stunden der Münchner Aufführung entdecken und manche von ihnen auch entschlüsseln kann, beschäftigt einen also erst einmal die selbstbezogene: Denićs Volksbühne besteht im Inneren aus einem plüschigen Salon mit dickem Kronleuchter, ist aber dennoch eher eine windige Bretterbude; auf dem Dach wehen Fahnen, über dem Portal steht: "Die Kunst dem Volke". Leuchtreklamen werben für Pepsi und Coca-Cola, Cola Zero, drunter steht "Migrants free".

Cola ist für Castorf Kapitalismus schlechthin, später wird man auch Videos über den bösen Cola-Imperialismus in Mittelamerika sehen. Vielleicht rührt aber die Reklame auch von Seite 887 in der hier verwendeten Neuübersetzung von Hašeks Roman durch Antonín Brousek. Dort steht, ein Leutnant Dub habe sich seine Reitkünste wohl deshalb verdorben, weil er sich zu lange "unter Cowboys im Westen aufgehalten" habe. Amerika kann den Geschmack ruinieren, das dachte sich Hašek schon 1921. Wie sich Denić im Geiste Castorfs die Zukunft der Volksbühne nach dem Abschied des großen Zampanos 2017 vorstellt, kann man sich ohnehin denken.

Doch zunächst wird davor gespielt, ganz analog und mit Herzblut, das erste Video flackert nach 35 Minuten auf. Franz Pätzold gibt Nuancen eines Hašek'schen Polizeispitzels wieder, Bibiana Beglau sinniert über die Liebe zu den Tieren, Manthei raucht. Faszinierend hierbei ist, und diese Faszination wird den ganzen Abend lang anhalten, wie Castorf in einem selbst für seine Verhältnisse virtuosen Flirren eigene Idiosynkrasien mit Textexegese und kulturellem Wissen vermengt. Hašek handelte mit Hunden, Švejk tut dies auch, mit einigen Malheurs, denkt man Freud dazu, also die Erfindung der Psychoanalyse in der Donaumonarchie, ist man da schnell bei Assoziationen zu eskapistischer Tierliebe.

Die Drehbühne mit Denićs Prachtverhau setzt sich in Bewegung, und man sieht: ein Tarnnetz, mehr Coca-Cola, Stacheldraht mit Konservendosen, die scheppern, sollte der Feind anrobben, einen Güterwaggon mit der Doppelfahne der K.-u.-k.-Monarchie - der Spanier Claudio Guillén verglich Hašeks Roman einst mit einem Güterzug, weil sich darin wie Waggon auf Waggon Episode an Episode reiht. Mehr als 150 insgesamt. Viele davon erzählt Castorf bis zur Pause - nach etwa 165 Minuten - bemerkenswert nah am Roman. Aber natürlich, trotz 95 Prozent Hašek-Text, im Castorf-Stil der auslaugenden Überhitzung.

Grandios, wie Castorf die Rollen passgenau für seine Schauspieler erfunden hat. Franz Pätzold wechselt geschmeidig in die Rolle des dekadent abgefaulten, aber bis zur Verausgabung eleganten Leutnant Lukas, Katharina Pichler ist ein wehrhaftes Versprechen männlicher Sehnsüchte, Götz Argus ein bald angstzerfressener Bolide des Krieges. Fabelhafte schauspielerische Ereignisse, äonenweit entfernt von postpostdramatischen Lappalien. Mit einigen Erweckungserlebnissen: Marcel Heuperman spielt voller Inbrunst den verfressen Baloun, der am liebsten in der Gulaschkanone wohnt, Arthur Klemt, sonst meist der liebe Kerl, ist ein hart vom Krieg Gezeichneter, Nora Buzalka trägt mit leuchtender Schönheit das Ihre zum Sprachengemisch bei, der an der totalen Verausgabung entlang lavierende Jeff Wilbusch bringt das jüdische, oder besser: jiddische Element hinzu. Überhaupt wird man hier mit eben jenem deutschen, tschechischen, jiddischen, vielleicht auch polnischen, sicher ungarischen Sprachwirrwarr konfrontiert, der in seiner Heterogenität vor allem von einem kündet: vom Zerfall eines künstlichen, metanationalen Konstrukts.

Die Rezeption von Hašeks "Švejk" ist in Deutschland bestimmt durch die stolprige, in ihrer dialektalen Pseudogemütlichkeit meist falsch verstandene erste Übersetzung von Grete Reiner mit den putzigen Illustrationen von Josef Lada, auch durch die Verfilmungen mit Heinz Rühmann, Peter Alexander, Fritz Muliar. Denkt man in Deutschland an den Ersten Weltkrieg, dann denkt man an Ypern, Giftgas, Verdun. Da passte es ja vermeintlich gut, gerade in den Verfilmungen den Krieg im Osten als eine Wurschtelei überständiger Adelstrottel zu sehen, in der ein paar lustige Streiche das Überleben sichern. Doch Hašek ist im Kern viel dunkler, und das interessiert Castorf natürlich kolossal.

Er denkt den Roman auch vom Autor her. Hašek war nicht nur ein Wirtshausanarchist, er war, bevor er sich zu Tode soff, bei den Bolschewiken, in der Sowjetarmee, im Krieg nach Osten gespült wie sein Švejk. Und so baut Castorf bis zur Pause die - da von Liebeshändeln durchsetzten - teils auch drolligen Episoden auf, um nach der Pause in einem stillen See der verlorenen Utopien jegliche Hoffnung versinken zu lassen. Tatsächlich wird es dann sehr ruhig, wenn von der "Statur der tschechoslowakischen terroristischen Truppen" die Rede ist, von Ernst Jünger, Lenin, was auch immer. Sang man zuvor noch "Da-da-da" der Band Trio - der Dadaismus wurde ja während des Kriegs erfunden - oder "Geburt einer Nation" der slowenischen (!) Band Laibach, so hört man nun Georg Danzer, "Ruhe vor dem Sturm". Oder Brecht: das "Lied von der Moldau". Dem wohnt natürlich der Schalk inne, dass Castorfs "Baal"-Inszenierung am Residenztheater von der Erben verboten wurde. Aber in seiner abschiedsseligen Trübsal passt das Gedicht vom Ende der für Brecht nie herrlich gewesenen monarchistischen Zeiten.

Das letzte Wort hat der General: "Dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig."

Valery Tscheplanowa singt es, und mit ihrem Auftritt nähert sich die Aufführung ihrem Kern. Sie ist die "schwarze Witwe", die Witwe aller Toten, und sie trifft auf Švejk. Aurel Mantheis Švejk, der bis dahin eher, wenn auch emphatisch, die Rolle eines stummen Erzählers, eines Beobachters eingenommen hat, wird von diesem brachial schönen, straußenfederngeschmückten Engel des Todes aufs nackte Überleben zurückgeworfen. Keine Schnurren mehr. Nur noch ein kleines bisschen Leben. Lieder gibt es noch, Tscheplanowa singt "Lili Marleen" oder "La Paloma", aber sie verglühen wie Sternschnuppen.

Ja, Castorf wird am Ende pathetisch. Dagegen hilft nur noch Bier, keine Cola. Oder vielleicht befördert Bier ja erst die Weichheit im Gemüt. In dieses nun wehrlose Gemüt tropfen die Reste all jener Hoffnung, die Švejk verkörperte. In Gestalt von Manthei war das Prinzip Švejk nie etwas Drolliges, nichts Bauernschlaues. Nur das berückend humane Wundern darüber, warum sich die Menschen totschlagen. Die letzten Worte spricht der 83-jährige Jürgen Stössinger, der General: "Dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig." Damit geht man in die Nacht hinaus, randvoll mit einem Abend, der klüger ist, als man es sein kann, der einen glücklich machte im Denken, im Betrachten grandioser Schauspielerei und der einen, erstaunlich genug bei Castorf, so gut wie nie nervte.

© SZ vom 11.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: