Schauplatz Venedig:Regelbrüche, haufenweise

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An den Hunden in der Stadt lässt sich das Altern der Bevölkerung beobachten - und Regelverstöße, die selbst einen Pfarrer umtreiben.

Von Thomas Steinfeld

Es gibt kaum Katzen in Venedig. Das ist ungewöhnlich für eine Stadt am Meer, zumal eine, die nicht nur am, sondern auch im Wasser liegt, und es ist erst seit Kurzem so. Vor vielleicht zwanzig Jahren, erinnern sich die Alten, habe es einmal ein städtisches Programm gegeben, die Katzen aus der Stadt zu entfernen: Die meisten wurden sterilisiert, viele wurden in ein Tierheim auf die Insel San Clemente gebracht, die Letzten kamen auf dem Lido unter. Andere behaupten, die Katzen hätten das Rattengift nicht überlebt. Ihren Platz eingenommen scheinen die Hunde zu haben. Verbreitet sind sie vor allem in ihren kleinen Varianten. In der kalten Jahreszeit werden sie oft vollständig bekleidet ausgeführt, manche laufen in Schuhwerk herum. Kläffen können sie alle. Die zunehmende Verbreitung der kleinen Hunde ist, was nur scheinbar ein Paradox darstellt, eine Folge des Bevölkerungsschwunds in Venedig. Denn es sind vor allem die alten Menschen - und die meisten davon sind Frauen - im historischen Zentrum wohnen geblieben, während Kinder und Enkel längst auf dem Festland leben. Zur Gesellschaft bleiben den Alten die kleinen Hunde, die sie zweimal am Tag ausführen, auf Spaziergängen, die meistens nur einmal die Gasse hinauf und wieder herunter führen.

Sonntags gehen die alten Damen in die Kirche, wobei der Gottesdienst in manchen Kirchen gut besucht ist und in anderen kaum. Die Hunde bleiben dann zu Hause. Sie gehen zum Beispiel in die Kirche San Giovanni in Bragora im Stadtteil Castello, einem spätgotischen Bau, in dem Antonio Vivaldi getauft wurde und eines der schönsten Gemälde von Cima da Conegliano zu sehen ist. Die Kirche liegt an einem Platz, der unter den Einheimischen beliebt ist, weil dort ein kleiner Baum und ein paar Bänke stehen und sich die Kinder mit einem Ball austoben können, ohne dass es jemanden störte. Der Pfarrer dieser Kirche, der zufälligerweise auch Giovanni heißt, allerdings Don Giovanni, ist seiner volksnahen Predigten wegen im ganzen Viertel berühmt. Er redet seinen Gläubigen gern ins Gewissen. Darüber hinaus schmückt er seine Kirche in der Weihnachtszeit mit einer dünnen Girlande aus bunten Glühbirnen, die den ästhetischen Abstand zwischen Gotteshaus und Kirmesbude deutlich verringert.

Das geht nicht, sagt Don Giovanni - den Flüchtlingen nur Übles zu unterstellen

Viele Venezianer, sagte nun Don Giovanni jüngst in einer dieser Predigten, hätten, anstatt ankommende Flüchtlinge mit offenen Armen und großem Herzen so willkommen zu heißen, wie man es von Christenmenschen erwarten kann, Angst vor den armen Gestrandeten. Sie unterstellten ihnen nur Übles wie Einbrüche und andere Straftaten. Dabei seien es die Einheimischen selbst, die sich konsequent über die einfachsten Regeln des gesitteten Zusammenlebens hinwegsetzten. So habe er, Don Giovanni, erst am Vortag eine Dame - ein Mitglied der Gemeinde! - beobachtet, wie sie den Kothaufen ihres Hundes mitten auf dem Campo vor der Kirche einfach liegen gelassen und so getan habe, als habe sie mit Hund und Haufen nichts zu tun. Jeder solle, so Don Giovannis Mahnung, erst einmal vor der eigenen Tür kehren, bevor man den Ärmsten der Armen Unrechtes unterstelle. Tatsächlich sind diese Kothaufen eines der beherrschenden Ärgernisse im Alltag dieser Stadt: Sie liegen in den noch von Einheimischen bewohnten Teilen Venedigs in einer Häufigkeit herum, dass der Passant stets das Pflaster vor seinen Schritten im Auge behalten muss und es bitter bereut, wenn er in seiner Aufmerksamkeit einmal auch nur für einen Augenblick nachließ. Voller Genugtuung erfährt der Passant nun von Don Giovannis Predigt, und es wächst die Achtung nicht nur vor dem Mann, sondern auch vor seiner Kirche.

© SZ vom 05.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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