Schauplatz Rio:Wie tote Flusspferde

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Die Bewohner Rio de Janeiros nennen sich Cariocas, nach dem Rio Carioca, der durch die Stadt fließt. Er ist nicht lang, stinkt aber trotzdem wie die Pest.

Von Boris Herrmann

An der Flussmündung sitzt ein Bettler. Wenn sich Touristen nähern, beginnt er zu singen. Seine Lieder handeln von Schönheit, von der Schönheit Rio de Janeiros. Die ist schon so oft besungen worden, dass man sich über jeden Spender wundern muss, der dafür noch ein paar Reais übrig hat. Auf der anderen Seite hat der Bettelmusikant natürlich recht. An der Stelle, wo sich der Rio Carioca in die Bucht von Guanabara ergießt, ist Rio tatsächlich die schönste Stadt der Welt. Das ewige Postkartenmotiv. Man blickt geradeaus auf die Gondeln, die zum Zuckerhut hinaufwackeln. Im Rücken grüßt die Christus-Statue vom Corcovado. Was die Idylle trübt, ist der süßliche Duft, der einem in die Nase kriecht. Es ist der Duft der Verwesung.

Die Bewohner Rios, die Cariocas, haben sich einst nach diesem Fluss benannt. Zu sagen, sie trügen ihren Rufnamen mit Stolz, wäre schwer untertrieben. Ihr wichtigstes Fest heißt "Carnaval Carioca", ihre Fußballmeisterschaft nennt sich "Campeonato Carioca". Und überall, wo in diesen Tagen auf den 450. Geburtstag von Rio de Janeiro angestoßen wird, lautet das Partymotto: "Viva a Carioquice!" - es lebe der Cariokismus! Zu den unzähligen Widersprüchen des Cariokismus gehört es, diesen Namen derart zur Schau tragen und gleichzeitig seinen Taufpaten derart zugrunde zu richten.

Der Rio Carioca misst rund sieben Kilometer von der Quelle bis zur Mündung. Kein großer Fluss, aber groß genug, um eine große Stadt zu begründen. Die ersten europäischen Siedler haben sich nicht von ungefähr an seinen Ufern niedergelassen. Er war viele Jahrzehnte lang für die Trinkwasserversorgung der Cariocas verantwortlich. Im Jahre 450 der Stadtgeschichte erlebt Rio nun seine schwerste Wasserkrise. In manchen Stadtteilen bleibt stundenlang der Hahn trocken. Im Rio Carioca würde man inzwischen nicht einmal mehr seine Füße waschen.

Er entspringt als kristallklares Rinnsal im Nationalpark Tijuca, knapp unterhalb des Corcovado. Im Stadtteil Cosme Velho sieht er noch halbwegs lebendig aus, dann verschwindet er als Abwasserkanal unter den Straßen von Laranjeiras und Flamengo, unter Hunderttausenden Haushalten, zahlreichen Tankstellen und Krankenhäusern. Was dann unten, in dem von Rios berühmtem Stadtgärtner Roberto Burle Marx gestalteten Aterro do Flamengo wieder ans Tageslicht kommt, ist totes, schwarzes Brackwasser. Vollkommen fischfrei. Schon erstaunlich, was der Mensch einem kleinen Flüsschen auf ein paar Kilometern alles antun kann.

Die Stadtverwaltung hat mitten im Stadtpark, etwa 200 Meter vor der Flussmündung, ein Klärwerk errichtet, um das Gröbste herauszufiltern. Das Gröbste ist in diesem Fall ein dicker Schlacketeppich, der nach 300 verwesten Flusspferden riecht.

Im Klärwerk gibt es auch einen kleinen Garten mit Buxbaumhecken in Form der fünf olympischen Ringe. Nächstes Jahr wird in der Guanabara-Bucht um Goldmedaillen gesegelt. Es sollen wie immer die besten Spiele aller Zeiten werden. Der Rio Carioca gehört schon jetzt zu den Siegern. Dank des olympischen Klärwerks riechen seine letzten Meter jetzt nur noch nach 150 verwesten Flusspferden.

© SZ vom 25.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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