Schauplatz Rio:Schneckenjustiz

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Ein Rechtsstreit beschäftigt brasilianische Gerichte seit 123 Jahren: Isabella von Brasiliens Klage gegen die Enteignung ihrer Residenz.

Von Boris Herrmann

Die brasilianische Justiz ist nicht für übertriebene Hektik bekannt. Aber ein Prozess, der fast 123 Jahre andauert, ist selbst im Land der trödelnden Richter außergewöhnlich. Der Rechtsstreit mit den beiden Aktenzeichen "1149487" und "1141490" geht auf eine Klage zurück, die am 25. September 1895 eingereicht wurde, und zwar im Namen von Isabella Cristina Leopoldina Augusta Micaela Gabriela Rafaela Gonzaga d'Orléans-Bragança, besser bekannt als Prinzessin Isabella von Brasilien. Manche nennen sie auch "die Erlöserin", weil sie 1888 das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei unterzeichnet hatte. Damit verlor die Monarchie ihren letzten Rückhalt bei den Großgrundbesitzern und wenig später auch die Macht. Im November 1889 wurde Kaiser Dom Pedro II. samt Hofstaat davongejagt, seine Tochter Isabella floh nach Paris. Was die letzte Kronprinzessin bis zu ihrem Tod 1921 nie akzeptierte, war die Enteignung ihrer Residenz in Rio de Janeiro. Sie war von republikanischen Truppen besetzt und dem neu gegründeten Staat überschrieben worden. Das beschäftigt die Gerichte immer noch.

Der eklektische Guanabara-Palast steht im Stadtteil Laranjeiras. Heute führt eine extrem stauanfällige Schnellstraße direkt an der Eingangspforte vorbei. In den einstigen Gemächern von Isabella residiert jetzt die Landesregierung des Bundesstaates Rio de Janeiro und verwaltetet von dort den finanziellen Notstand. Infantin Isabella hatte die Immobilie 1864 erworben, anlässlich ihrer Hochzeit mit Prinz Gaston d'Orléans, einem Enkel des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe. Dort kamen auch die vier Kinder des damaligen Traumpaares zur Welt, deren Nachfahren auch im Jahr 2018 noch für die Monarchie werben und nebenbei brasilianische Richter auf Trab halten. Wobei es sich hier um eine sehr gemütliche Trab-Variante handelt.

Schon 1895 wurden die Ansprüche der kaiserlichen Familie in erster Instanz zurückgewiesen. Daraufhin zogen Isabellas Anwälte vor den Bundesgerichtshof (STF), der die Sache aber auf klassisch brasilianische Weise behandelte - nämlich gar nicht. Jahrzehnte vergingen ohne Entscheidung oder Erklärung. Viel später hieß es, die Akte sei versehentlich am falschen Ort archiviert worden und deshalb verloren gegangen. Man muss sich also nicht wundern, weshalb im bürokratischen Labyrinth dieses Gerichtshofs derzeit mehr als 200 Prozesse festhängen, die mindestens zwanzig Jahre alt sind. Eine brasilianische Zeitung kürte den STF unlängst zum "langsamsten Gericht der Welt". Aber nichts geht hier so langsam voran wie die Posse um den Guanabara-Palast.

Mitte des 20. Jahrhunderts kam wieder etwas Schwung in die Sache. Damals zog ein Teil der Familie Orleans e Bragança zurück nach Brasilien und erneuerte die Forderung nach der Rückgabe des Gebäudes. Zwischenzeitlich hatte hier der autoritäre Staatspräsident Getúlio Vargas residiert, nachdem Rio 1960 seinen Status als Hauptstadt verlor, zog erst die Stadtverwaltung, dann die Landesregierung ein. Der STF brauchte dann weitere Jahrzehnte, um alle Zeugen vorzuladen und verlor erneut den Überblick, weshalb der Fall an den Obersten Gerichtshof (STJ) ging. Dort wird seit 2009 an einer Lösung gearbeitet, und wenn nicht alles täuscht, ist es bald so weit. Am 4. September soll die Verhandlung beginnen. 122 Jahre und 344 Tage nach Isabellas Klage.

© SZ vom 11.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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