Schauplatz Paris:Ein neues 1984

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Es ist September, das Flimmern der französischen Buchpreise beginnt. Schon konzentriert sich das Interesse auf einen Roman von Boualem Sansal. Sein Titel: "2084".

Von Joseph Hanimann

Über den Bücherbergen des Saisonbeginns flimmert bei manchen Neuerscheinungen in Paris schon im September der Vorschein eines möglichen Literaturpreises. Reine Spekulation, alles bleibt offen - winken jedoch die Juroren von Goncourt, Femina oder Académie Française ab. Unberührt davon leuchtet aber meistens wie ein Fixstern das eine oder andere Buch. Diesmal heißt es "2084" und strahlt aus dem Rückblick in die Zukunft voraus. Der algerische Autor Boualem Sansal, der Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2011, hat eine neue Version des Romans "1984" von George Orwell vorgelegt. Die Zukunftsfiktion einer Eiszeit auf den Spuren des Kalten Krieges zieht die Aufmerksamkeit von Kritikern und Lesern auf sich.

Big Brother waltet diesmal in Abistan, einem Land, das ganz dem Kult des Gottes Yölah ergeben ist. Das Auge Abis ist allgegenwärtig im Reich, dessen Sprache "Abilang" ganz darauf angelegt, bei den Leuten das Nachsprechen ohne Nachdenken zu fördern. Die Zeit scheint stillzustehen und die auf Monumenten und Gedenktafeln angeführte Zahl 2084 - Gedenkjahr oder Heilserwartung? - sagt keinem Bürger etwas Besonderes, weil alle selbst das Zählen verlernt haben und nicht mehr wissen, dass noch vor 2084 das Jahr 2083 kommen muss. Mechanisch befolgt jeder die Regeln des Neunmal-Betens am Tag und das Auswendiglernen der verordneten Sinnsprüche.

Auf die naheliegende Deutung der Kritiker, es handle sich hier um die Vorwegnahme eines Gottesstaat von der Art IS, antwortet Sansal: nicht nur. Alle Auslegungen seien möglich, auch die Assoziation mit einem militärisch verkrusteten Machtregime wie dem in seinem eigenen Land Algerien. Die Detailfreude jedoch, mit welcher der Autor die leere Gottesergebenheit der Bewohner von Abistan beschreibt, deutet klar darauf hin, dass er ein islamistisches Fundamentalregime vor Augen hatte. Er, der sich auch in seinen früheren Büchern provokationsfreudig alle Tabus der religiösen Fuchtler und Frömmler vornahm, gibt sich aufs Neue den Wonnen des burlesken Schwarzmalens hin. "Ein vorzügliches, radikales Buch", schwärmt Michel Houellebecq. Nein, berichtigt Sansal: ein realistisches Buch.

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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