Schauplatz Grosny:Vorsichtige Erinnerung

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Zwei Kriege haben Grosny verwüstet, die Stadt ist wieder aufgebaut. Gedenken an den russischen Terror? Nicht jetzt, wo man doch offiziell verbündet ist. Eine Künstlerin stellt sich gegen die Doktrin, vorsichtig, an einem speziellen Ort.

Von Julian Hans

Es wird Nacht. Die Stadt schläft, die Mafia erwacht. Ein Dutzend junge Männer und Frauen sitzen um einen runden Tisch aus schweren Holzbohlen und spielen ein Rollenspiel, bei dem zunächst niemand weiß, wer friedlicher Bürger ist und wer Krimineller. Die Gruppe muss es herausfinden, bevor die Gangster alle Bürger umgebracht haben.

Die Stadt, das ist heute Grosny, Verwaltungszentrum der russischen Teilrepublik Tschetschenien im nördlichen Kaukasus. Grosny, die Schreckliche, ihr Name steht für Gewalt: Seit ihrer Gründung, als Garnisonsstadt des Zaren, wegen zweier äußerst blutiger Kriege mit mehr als 150 000 Toten, der zweite fand erst vor sechs Jahren ein Ende.

Mitten in dieser Stadt, am Putin Prospekt, liegt das Zentrum für zeitgenössische Kunst: Zwei Räume, grauer Teppichboden, eine Küche, gelöste Stimmung. Es gibt Tee und Kekse. Alkohol darf in der muslimischen Republik nicht ausgeschenkt werden. Die Männer tragen Bärte, die Frauen Kopftücher. Sie sind Studenten oder bei Behörden beschäftigt.

Aischat Adujewa hat das Zentrum vor drei Jahren gegründet, eine feingliedrige, hoch gewachsene Frau mit sandfarbenem Kopftuch und leiser Stimme. Ursprünglich wollte sie einfach Kunst zeigen, die sonst nirgends zu sehen ist in Tschetschenien, erzählt sie. "Aber dann hat sich das Zentrum immer mehr zur Begegnungsstätte entwickelt". Vor einem Jahr ist schließlich ein Anticafé daraus geworden - ein Trend in Russland: Orte, an denen die Gäste nicht für den Konsum bezahlen, sondern für die Zeit, die sie dort verbringen.

Bei Aischat Adujewa gibt es Kunst, Gesellschaftsspiele und Begegnungen mit aufgeschlossenen Menschen. Gerade werden Bilder von Rustam Achichanow gezeigt. "Perspektiven der Erinnerung" lautet der Titel, Thema ist die Deportation der Tschetschenen durch Stalin im Februar 1944. Das Gedenken ist nicht einfach, Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der Republik, bekundet auf Schritt und Tritt seine Loyalität zu Moskau; da passt die Erinnerung an Konflikte schlecht dazu. Über die letzten Kriege wird geschwiegen, ihre Spuren sind in der Stadt beseitigt.

Achichanows Bilder zeigen gequälte Gesichter, Eisenbahnwaggons, Grabsteine in grauen Tönen. Aber sie sind verhüllt hinter weißen Laken, auf denen das Wort "Vergessen?" gestempelt ist. Sehen kann sie nur, wer sie enthüllt.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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