Schauplatz Berlin:Verwunschen am Halleschen Tor

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Weil sie einst von den Vereinigten Staaten von Amerika spendiert wurde, heißt die AGB "Amerika-Gedenkbibliothek". Jetzt träumt sie davon, stattdessen eine "Public Library" zu werden.

Von Jens Bisky

Weil sie ein Geschenk der Vereinigten Staaten war, heißt die AGB "Amerika-Gedenkbibliothek". Aber auf dem Dach des Gebäudes, das den Fortschrittsglauben der Fünfzigerjahre vergegenwärtigt und heute sehr behaglich anmutet, stand in Großbuchstaben nur "Gedenkbibliothek". Wer in diesen Tagen zum Halleschen Tor fährt, der liest darüber "Amerika". Auf dem Foyerboden wurden Repliken von Einbänden und Buchseiten verstreut. Auf einer Theke hinter einem Info-Tresen stehen acht Bücher mit Titeln wie "KNLLAEFFKET" oder "LUTSGÜEFHL". Die Bücher enthalten nur leere weiße Seiten, aber der Autorname steht vorne drauf: Adib Fricke. Er ist einer von 22 Künstlern, die im AGB-Gebäude mit dem Raum spielen und der Ordnung, mit Büchern, Lesern, Bildern. "Public Library" ist der Sammeltitel für zwanzig künstlerische Interventionen. Sie drängen sich nicht auf, manche werden demonstrativ übersehen. Auf der Installation "Methodothek" hat ein mittelalter Mann in Schlabberhosen seine Tageszeitung ausgebreitet und versucht sich am Sudoku. Die Installation von Michaela Nasoetion - Skizzen, Fotos, Listen - bedeckt einen Tisch, und er will offenkundig lieber vom Tisch als von der Kunst Gebrauch machen.

Die Interventionen, die noch bis zum 13. Oktober zu erleben sind, verstärken den Eindruck, es sei dieses Haus in seinem freundlichen Alltagsbetrieb ein verwunschener Ort, an dem viel mehr noch möglich wäre, als bloß ein Buch auszuleihen, neugierig vor Monitoren zu hocken, etwas aufs Papier zu kritzeln. Der sozialmagische Charakter dieser großen öffentlichen Bücherei ist oft beschworen worden. Hier geht der Professor aus der Nachbarschaft hin, hier beugen sich Mädchen aus Kreuzberg über Hausaufgaben, kann man Menschen aus Lichtenberg wie aus Tempelhof treffen. Die Atmosphäre ist gelöst, es wird gemurmelt und gesucht, aber es ist zu wenig Platz für die Bücher und all die anderen Medien. Wer sich für Stadtgeschichte, Wirtschaft, Medizin oder die historischen Bestände interessiert, muss nach Mitte fahren, an den zweiten Standort der Zentral- und Landesbibliothek. Ein Neubau war für Tempelhof geplant, derzeit wird anderes geprüft. Rings um die AGB am Halleschen Tor wäre Platz fürs An- und Weiterbauen. Mit Höfen, Terrassen, einem großen Lesesaal, Salons für Plaudereien. Die gesamte Nachbarschaft würde sich wandeln, und "Public Library" wäre mehr als nur der Titel temporärer Kunstinterventionen.

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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