Schauplatz Berlin:Verstrahlt durch Klassik

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In Berliner Clubs hat man schon einiges gesehen, auch Menschen, die sich morgens um acht auf der Toilette die Zähne putzen. Diesmal aber ist einiges anders im Kraftwerk. Die Menschen haben nicht getanzt, sondern geschlafen.

Von Jan Kedves

In Berliner Clubs hat man schon einiges gesehen, auch Menschen, die sich morgens um acht auf der Toilette die Zähne putzen. Die Menschen in der Toilette des Kraftwerks haben die Nacht allerdings nicht durchgetanzt, sondern geschlafen, oder versucht zu schlafen. Auf Feldbetten, die sie für 50 Euro gemietet haben von den Veranstaltern des MaerzMusik-Festivals. "Sleep" von Max Richter, Uraufführung, ein acht Stunden langes "Wiegenlied für eine überdrehte Welt", dargeboten von Streichquintett, Sopranistin und Max Richter, dem Komponisten, persönlich. Man soll "Sleep" im Traum auf sich wirken lassen, Richter hat sich dafür mit amerikanischen Neurowissenschaftlern ausgetauscht. Schon komisch, dass man in Berlin jetzt zum Schlafen in den Club geht, während die Drei-Tage-wach-Partys mit Crystal Meth in Privaträumen stattfinden.

Drei Minuten nach Mitternacht drückt Richter zum ersten Mal eine seiner trägen Terzen in den Flügel, die ziehen sich raupenartig zu Sekunden zusammen und weiten sich, abwärts, wieder zu Terzen. Ein Computer rechnet Halleffekte hinzu. Viele der englisch, französisch und spanisch tuschelnden jungen Menschen, die sich eben noch kichernd in Leoparden-Jumpsuits geworfen oder in Boxershorts noch ein Bier an der Bar geholt haben, dösen tatsächlich schnell ein. Obwohl die Musik so laut ist.

Hat Max Richter nicht bedacht, dass der müde Mensch mit zunehmender Müdigkeit auch zunehmend lautstärkesensibel wird? Um 4.23 Uhr bringt ein mächtiger Bass-Drone die Gittergeländer in der ehemaligen Turbinenhalle zum Scheppern, und so liegt man wieder wach in seinem Schlafsack auf einem der 410 Feldbetten, starrt in die Betondecke, denkt an Flüchtlingscamps oder an den lustigen Artikel kürzlich im New Yorker, in dem Gadgets durchgetestet wurden, die chronisch Schlaflosen zu ihren sieben bis acht Stunden Schlaf pro Nacht verhelfen sollen. Smartbetten mit WiFi-Anschluss oder Akupunktur-Armbänder, die mit sanften Stromstößen die Melatonin-Ausschüttung anregen sollen. Wirksam war am Ende nur der "Eye Slack Haruka", ein Vibrator fürs Gesicht aus Japan, der morgens die Augenringe wegmassiert.

Gehört nicht auch Max Richters "Sleep" irgendwie in diese Reihe von Produkten, die das horizontal verbrachte Drittel des Lebens noch profitabler machen sollen? Der Gedanke bringt einen wieder zum Wegdämmern. Man schläft einen flachen, traumlosen, unerholsamen Schlaf und wacht erst um 6.57 Uhr wieder auf, kurz bevor "Sleep" ins Finale geht. Richter sitzt tatsächlich noch immer kerzengerade am Flügel, aber Finale ist übertrieben, das Stück besteht ja nur aus leicht variierten Motiven, die Harald Eggebrecht in dieser Zeitung "konturlos soft" und "molluskenhaft, wässerig" fand. Womit auch erklärt wäre, warum man nach acht Stunden langsam genug davon hat. Um 8.03 Uhr verhallen die letzten Töne, das Publikum reibt sich die Augen, applaudiert, ja, jubelt. Es ist wirklich ein bisschen so wie nach einer Technonacht: Man stolpert nach draußen in die strahlende Sonne, halb müde, halb wach. Verstrahlt durch Klassik - auch mal was Neues.

© SZ vom 18.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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