Schauplatz Berlin:Unter Schädeln

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Quentin Skinner hält im Tieranatomischen Theater einen bemerkenswerten Vortrag über "Hobbes und die Person des Staates".

Von Lothar Müller

Wer als Berlin-Besucher ein wenig Zeit hat, wenn er vom Brandenburger Tor aus in Richtung Schiffbauerdamm und Friedrichstadtpalast unterwegs ist, sollte sich diese kleine, große Sehenswürdigkeit nicht entgehen lassen: das Tieranatomische Theater, das Carl Gotthard Langhans zeitgleich mit dem Brandenburger Tor in den Jahren 1789/90 erbaute. Unweit der Charité liegt dieses grandiose Bauwerk des Berliner Frühklassizismus inmitten alter Institutsgebäude in einem ehemaligen Garten, es ist das älteste akademische Lehrgebäude der Hauptstadt.

Die Tieranatomie, die damals Anlauf zu ihrem großen Aufschwung nahm, wurde hier durch die Bauform des Pantheons geadelt. Langhans hatte sich die Villa Rotonda des Palladio zum Vorbild genommen, steil steigen im amphitheaterartigen Hörsaal unter der flachen Kuppel die Sitzreihen an, Bukranien, Rinderschädel, sind das zentrale Schmuckelement, die Gemälde zwischen den Fenstern unter der Kuppel erzählen antikisierend vom Nutzen der Haustiere. In einer schönen Ausstellung kann man seit der Restaurierung und Wiedereröffnung im Jahr 2012 die Geschichte des Anatomischen Theaters studieren, mit einem akustischen Cicerone im Ohr durch das zweigeschossige Gebäude flanieren.

Am frühen Mittwochabend sprach hier, unter den Rinderschädeln, der englische Historiker Quentin Skinner, der am Queen Mary College in London lehrt und zu den großen Kennern der politischen Ideengeschichte der Frühen Neuzeit zählt, über "Thomas Hobbes und die Person des Staates". Es war ein bemerkenswerter Auftritt.

Das Untier, über das der Politologe Skinner wetterte, war die britische Regierung

Quentin Skinner ist ein exzellenter Rhetoriker, der sich gern vom Manuskript löst. Sein Rednerpult stand dort, wo früher die großen Tiere seziert wurde, aus den Rängen des Amphitheaters blickte das Publikum auf ihn. In der Staatstheorie des Thomas Hobbes ist der Staat das Große Notwendige Ungeheuer, er trägt wie die Revolution, die sich im "Behemoth" spiegelt, einen alttestamentarischen Namen aus dem Buch Hiob, und während Skinner das Buch des Thomas Hobbes über den "Leviathan" sezierte, erwies sich, dass der Staat, der darin Gestalt gewinnt, seine absolute Macht dem Umstand verdankt, dass er - wie die Figuren Shakespeares - auf Fiktionen beruht, dass er diejenigen, die ihm die Macht übertragen, so repräsentiert wie der Schauspieler die ihm übertragene Rolle.

Skinner war vom Wissenschaftskolleg und der Carl-Schmitt-Gesellschaft eingeladen worden. Er hätte sich damit bescheiden können, im "Theatrum anatomicum" das ideengeschichtliche Schauspiel von der Erfindung des modernen Staatsbegriffs im revolutionserschütterten England und seines durchschlagenden Erfolgs auf dem Kontinent aufzuführen, bis hin zu Carl Schmitts Buch "Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes" (1938). Aber Skinner sezierte Hobbes eher gegen als mit Carl Schmitt, es ging ihm um die Leerstelle, die in England, die halb vergessene Staatstheorie hinterlassen hat.

Das Untier, gegen das Skinner seinen Vortrag hielt, war die britische Regierung. Seine Polemik gegen die Ineinssetzung von "Staat" und "Government" mündete in die Mobilisierung des Staatsbegriffes gegen die Regierung. Der Staat ist "Person", die auch die Regierung verpflichtet, weil er eine Person repräsentiert: "us" ("uns"). Die Interessen des "us" aber erschöpfen sich nicht im Interesse an Sicherheit, am Gewaltmonopol des Staates. "Health" und "Education" gehören dazu. Hier war die Schwelle zum nächsten Vortrag erreicht: er müsste das große Tier sezieren, das in die Leerstelle des Staates hineinwächst und für die aktuelle englischen Regierung zur regulativen Idee wird: den "Markt".

© SZ vom 23.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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