Schauplatz Berlin:Trost der Aufbegehrenden

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Riesengroß ist das Fenster im Centrum Hungaricum, so groß, dass es einen Panoramablick über die Stadt erlaubt, weit über den Boulevard Unter den Linden hinaus. Hier ging es um die "Physik der Schwermut".

Von Lothar Müller

Das Fenster hinter dem Rednerpult im Veranstaltungssaal des "Collegium Hungaricum" ist so groß wie die Leinwand in einem Kinopalast. Über den Freiraum zwischen Humboldt-Universität und Gorki-Theater gleitet der Blick über den Boulevard Unter den Linden hinaus, bis hin zu dem hoch aufragenden Kran, dessen Ausleger wie ein riesiger Finger in Richtung der Schloss-Baustelle zeigt. In den Baum am rechten Bildrand fährt gerade energisch ein Windstoß.

Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen die Aussicht verstelle, sagt der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov, als er ans Rednerpult tritt. Dann beginnt er seine Antrittsvorlesung. Er ist in diesem Sommersemester Siegfried-Unseld-Gastprofessor am Institut für Slawistik der Humboldt Universität. Im letzten Jahr ist sein Roman "Physik der Schwermut" auf deutsch erschienen. Darin wachen zwei mythische Figuren über die Kindheit des 1968 im bulgarischen Jambol geborenen Autors: der Minotaurus in seinem scheinbar endlosen, ausweglosen Labyrinth und Scheherezade, die dafür sorgt, dass das Erzählen immer weiter geht.

Lesende auf dem Taksim-Platz, auf dem Maidan in Kiew, Lesende in Hongkong

Gospodinov hält seine Vorlesung auf englisch, aber es ist nicht weit von diesem Englisch zum Bulgarischen, das darunter liegt, und auch nicht zum Ungarischen, aus dem der Großvater einige Brocken aus dem Weltkrieg mit nach Hause gebracht hat. In diesem osteuropäisch gefärbten Englisch ist Gospodinov schnell in der Welt seiner Kindheit im realen Sozialismus. In der von Knoblauchduft und Zigarettenqualm durchwehten Bar hing da ein blaues Schild, demzufolge die Schriftsteller Chirurgen der Seele zu sein hätten. Es leuchtet ein, dass sie dem Kind dadurch verdächtig wurden. Es sah blitzende Messer und einen Operationstisch vor sich.

Eben hat Gospodinov von Borges gesprochen, von der Bibel, von seiner Großmutter, und er hat Scheherazade zur Schutzherrin aller Erzähler gemacht, die aus der Position der Schwäche erzählen. Da schien der Trost der Literatur noch ganz im Privaten zu liegen, in der Beschwichtigung der Angst vor dem Schlafengehen. Aber jetzt senkt sich von oben eine weiße Leinwand über das große Fenster, und während sie hinabfährt, weitet Gospodinov seine These, die europäische Literatur müsse eine ihrer Ursprungsfunktionen zurückgewinnen, die Trostfunktion, ins Politische. Im osteuropäischen Englisch taucht das Lateinische Senecas auf, der in seiner "Consolatio" die Mutter tröstet, die sich wegen seiner Verbannung nach Korsika grämt. Die Leinwand hinter dem Redner wird zur Fotogalerie: Lesende auf dem Taksim-Platz in Istanbul, auf dem Maidan in Kiew, bei den Regenschirm-Protesten in Hongkong, im Sommer 2013 in Sofia, Orwells "1984" vor Augen, "Sisyphos" von Camus oder "100 Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez. Überall, wo in den letzten Jahren aufbegehrt wurde, wurde das stumme Lesen als Symbol des Protestes inszeniert, sagt Gospodinov. Er gibt in diesem Sommersemester auch einen Kurs in "Creative Writing". Die Erzählung, die dabei entstehen könnte, wäre der Text zur Bildergalerie der Antrittsvorlesung.

© SZ vom 05.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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