Schaubühne Berlin:Mit der Wasserpistole

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Armin Petras inszeniert klug und dicht Franz Witzels Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".

Von Peter Laudenbach

Die RAF sah auch schon mal gefährlicher aus. An der Berliner Schaubühne bastelt sie sich ein Logo, das sich am Wappen des Turnvereins Biebrich anlehnt, und hat vergessen, die Pistole zu laden. Es ist zwar nur eine Wasserpistole, aber immerhin kann sie um die Ecke schießen. Armin Petras, ein offenbar unersättlicher Roman- und Stoffverwerter, hat Frank Witzels kolossalen, mit dem Deutschen Buchpreis geehrten 800-Seiten-Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" in einen zweieinhalbstündigen Theaterabend verwandelt. Den schönsten Auftritt am Premierenabend hat der Autor, der zum Schlussapplaus auf die Bühne kommt und sich umständlich bei jedem Schauspieler einzeln bedankt, als sei ihm die Verwandlung seiner Roman- in Bühnenfiguren noch etwas unheimlich.

"Im Theater läuft eine Zwangsvorstellung", hat Witzel in seinen Anfängen als Schriftsteller vor dreieinhalb Jahrzehnten in seinem Langgedicht "Tage ohne Ende" notiert. Das ist einerseits ein guter Witz, andererseits leider oft genug triste Bühnenwirklichkeit. An diesem Abend bietet das Theater erfreulicherweise keine Zwangsvorstellung. Es ist die lockerste und gleichzeitig konzentrierteste Petras-Inszenierung seit längerer Zeit. Neben Witzels Roman, der Erinnerungssplitter, Verhörprotokolle, Traumreste, Teenager-Einsamkeit, Bibel- und Beatles-Exegesen montiert und dabei verwirrend Erzählperspektiven, Zeit- und Wirklichkeitsebenen wechselt, wirken selbst die gefürchteten Assoziationskünste von Petras harmlos. Also verzichtet Petras auf seine Umwege und türmt keine zusätzlichen Einfälle auf das Romangebirge, sondern macht das einzig Richtige, indem er ganze Erzählstränge kappt, vor allem den retrospektiven des erwachsen gewordenen Ministranten und RAF-Schwärmers Bernd. Er ignoriert auch weitgehend die theologischen Exkurse und nimmt sich stattdessen aus Witzels Prosa-Labyrinth die 1969er-Kindheitsmotive, um den Roman als Sonde in die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik der Siebzigerjahre zu benutzen.

Es herrscht eine dichte Atmosphäre zwischen Aggression und Depression

Es muss ein seltsames Land gewesen sein, freundlich wohlstandsbefriedet und neurotisch verdrängungsverpanzert: "So wuchs ich auf im Westdeutschland der verpassten Gelegenheiten, wo's um vier Uhr dunkel wird in den Zimmern, im Westdeutschland der heruntergezogenen Unterlippen. Was vorbei ist, ist ein Phänomen, dafür konnte keiner was" - um hier noch einmal aus Witzels großartigem Frühwerk aus den späten Siebzigern zu zitieren. Seinen ersten beiden Gedichtbänden, erschienen in der eigensinnigen Edition Nautilus, war damals durchschlagender Misserfolg beschieden. Heute liest man diese hellwach melancholischen Wahrnehmungs- und Gedankensplitter im Brinkmann-Sound fasziniert, und das nicht nur als erste Vorstufe zu Witzels großem Roman.

Katrin Brack hat die Bühne mit zwei Dutzend Schaufensterpuppen vollgestellt, deren blass-bunte Mode klarmacht, dass der Pop inzwischen, also etwa Anfang der Siebzigerjahre, in der Welt der Angestellten-Tristesse angekommen ist. Kein Wunder, dass sich Bernd und Claudia, Achim und Christiane, mitten in der Pubertät, mitten in der hessischen Provinz, in dieser Zombie-Welt ziemlich verloren vorkommen. Ihre Verzweiflungsstimmungen halten die mit dem "Modell Deutschland" (Helmut Schmidt) unzufriedenen Schüler in Briefen an Che Guevara fest, ihre Ritterfiguren und die Indianersquaw aus Plastik heißen jetzt Andreas Baader und Gudrun Ensslin. So gehen kindliche Spielwelten nahtlos in pubertäre Revoltefantasien über. Funktionstüchtig für die Erwachsenenwelt zu werden, ist so ziemlich das Letzte, was sie sich wünschen. "Wachsen heißt sterben, und vor dem Sterben gibt es Nachsitzen und Strafarbeiten", lautet ihre durchaus realistische Prognose. Jule Böwe, Julischka Eichel, Paul Grill und Tilman Strauß teilen sich, zwischen den Figuren wechselnd, mit schöner, klarer Präsenz, ohne aufgesetzte Posen und angenehm nostalgiefrei die halb erzählten, halb spielend skizzierten Textpassagen. Peter René Lüdicke betritt als erwachsen, also fürchterlich alt gewordener Bernd noch einmal dieses Land seiner eigenen, ratlosen Jugend.

Für die dichte Atmosphäre zwischen Aggression und Depression sorgt die hochenergetische, unverschnörkelt draufloskrachende Band mit dem schönen Namen Die Nerven, die klingt, als würden die wiedergeborenen Stooges als Rock-Berufsanfänger in einem Stuttgarter Jugendzentrum die Freuden treibender Bässe und gepflegter Powerchords auskosten. Kein Wunder, dass Schorsch Kamerun schon vor längerer Zeit jedem erzählte, dass Die Nerven keineswegs nerven, sondern ziemlich toll sind. Recht hat er. Einen besseren Soundtrack, eine adäquatere szenische Umsetzung hätte sich der Beatles- und Cream-Fan Witzel für seine Suche nach der verlorenen Zeit nicht wünschen können.

© SZ vom 12.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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