Sammelbox:Unideologische Rohrbedienung

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Die 10-CD-Box "Bilanz" versammelt dreizehn von knapp tausend Originalhörspielen, die der WDR in den vergangenen sechzig Jahren produziert hat - ein Streifzug durch die Zeiten und ihre Sprechhaltungen.

Von Tobias Lehmkuhl

Hat sich die Hörspielkunst in den letzten sechzig Jahren ebenso stark verändert wie beispielsweise die Filmkunst? Sind Hörspiele schneller geworden, wird stärker mit Effekten gearbeitet? Vergleicht man das jüngste und das älteste Hörspiel der 10-CD-Box "Bilanz. Hörspielkunst aus den Studios des WDR", könnte man meinen: Nein.

Mariana Lekys "Der Aufzug" von 2013 basiert ebenso wie das 1958 entstandene, titelgebende Stück "Bilanz" von Heinrich Böll auf einer kammerspielartigen Situation: Ein Mann und eine Frau bleiben gemeinsam in einem Aufzug stecken; er ein HNO-Arzt und ausgesuchter Unhöfling (sehr überzeugend: Dominic Raacke), sie eine hypernervöse Schuhfachverkäuferin mit allerlei Symptomen, aber ohne Diagnose (zum In-den-Arm-Nehmen: Jule Ronstedt). Und dann ist da, nach Betätigen des Notfallknopfs, noch der Hausmeister, der in seiner Funktion als "psychologisch geschultes Personal" den beiden Feststeckenden mit mal mehr, mal weniger hilfreichen Tipps zur Seite steht beziehungsweise spricht - eine radiophone Situation sondergleichen.

Ebenso reduziert, aber frei von jeglichem komödiantischen Anstrich, das Stück von Böll. Da weiß eine Frau, dass sie am selben Tag noch sterben wird, und führt ein letztes Gespräch mit dem Mann, mit dem sie seit achtunddreißig Jahren verheiratet ist: Bilanz.

Der gravierende Unterschied zwischen diesen beiden Hörspielen liegt also weniger im Aufbau oder der Art der technischen Realisation, es ist vielmehr die Sprechhaltung, die jedes sofort als Kind seiner Zeit kenntlich macht: Hier, bei Böll, das existenzielle Pathos ("Ach, hätte ich in meinem Leben einen Menschen wirklich gekannt!"), dort, bei Leky, das leichthändige Spiel mit psychologischen Konstellationen: Während es 1958 umstandslos um letzte Dinge geht, steht der "Aufzug" 2013 für das Auf und Ab des Daseins, das Ausgeliefertsein an den Zufall und die Macht moderner Schicksalsmächte. Technische Beförderungsmittel etwa.

Die Sprachkritik wurde zuweilen zu einem recht freudlosen Unterfangen

Gleich geblieben ist das Interesse des Hörspiels an der Sprache, denn mit Sprache arbeitet es vornehmlich. Im Grunde räumt unter den dreizehn ausgewählten Hörspielen dieser Anthologie nur "Resonanz Rosa: Eine Frau hört mehr" von Walter Filz aus dem Jahr 1999 außersprachlichen Elementen, also Musik und Geräuschen, nennenswerten Platz ein. Diese Zurückhaltung mag in den Sechziger- und auch noch den Siebzigerjahren durchaus technische Gründe gehabt haben - Außen- und Mehrspuraufnahmen erforderten damals weitaus größeren Aufwand als heute -, aber gerade Lekys "Der Aufzug" zeugt von der Vorliebe für die kleine Form und dem nach wie vor bestehenden Potenzial, das räumliche und technische Beschränkung bietet.

Das naheliegende Interesse der Hörspielautoren, die zumeist auch Dichter oder Romanciers sind, an einer Reflexion über Sprache, bedeutete gerade in den Siebzigerjahren Sprachkritik - Kritik an der Sprache der Politik, Kritik an der Sprache der Medien. Das war zuweilen ein recht freudloses Unterfangen, und Stücke wie Dieter Fortes "Sprachspiel" wird man heute eher aus historischem Interesse hören.

Thematisch sind viele der "Bilanz"-Hörspiele ebenfalls historisch leicht lokalisierbar (wie heute die Flüchtlingsthematik auch im Radio sehr en vogue ist). So dokumentiert Ruth Rehmanns Hörspiel "Atemnot" von 1985 das gewachsene ökologische Bewusstsein: Eine Frau verlässt erschöpft von den vielen Diskussionen in ihrer WG das große Berlin, um in einem Provinzstädtchen bei ihrer Jugendliebe zur Ruhe zu kommen. Dort fühlt sie sich in die Rolle der Hausfrau gedrängt, zudem ist sie überzeugt, dass das nahe Chemiewerk die Menschen krank macht. Doch alle sind von dem Werk abhängig und niemand mag ihr glauben. So gibt sie, inzwischen schwanger, ihren Kampf auf und kehrt nach Berlin zurück. Ihr Kind soll nicht in verpesteter Landluft, erstickender Provinzatmosphäre aufwachsen.

Das erstaunlichste und überraschendste unter den dreizehn Stücken ist Dieter Kühns "U-Boot-Spiel" von 1969. Und das, obwohl es erst einmal nicht aus dem Rahmen zu fallen scheint: Es treten bloß zwei Sprecher auf, es geht, ebenfalls wenig originell, um den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen (wie etwa auch in "Berg der Schatten" von Erasmus Schöfer), und es bietet zudem eine allerdings unideologische Reflexion über Sprache.

Zwei Männer spielen "Schiffe versenken". Der eine, Walter, hat durchaus praktische Erfahrung in dieser Tätigkeit, gehörte er doch im Zweiten Weltkrieg zur Besatzung eines U-Boots. Der andere hat sich immerhin einiges angelesen und hat auch, es ist offensichtlich nicht ihr erstes Spiel, schon viel von Walter gehört über die glorreiche Zeit.

"Wegen dem Schuss wird kein Mütterlein weinen!"

Die Zeit allerdings steht vorerst nicht im Vordergrund, sondern der Spaß am Spiel. Genüsslich bereitet Walter seinen Papierschuss vor: "Fluten, rein mit der Geschützbedienung, Tiefenruder vorne hart unten, achtern hart oben, das Boot schneidet unter, wird in günstige, vorliche Stellung manövriert, beide Maschinen kleine Fahrt voraus, im Bugtorpedoraum ist die Rohrbedienung aktiv, erstes und zweites Rohr fertig gemeldet, Kurs liegt an, Seerohr wieder ausfahren, das feindliche Schiff schiebt sich gegen den Nullfaden, erst schneidet der hintere Mast die Visierlinie, dann der vordere, der erste Offizier drückt auf den Knopf der Abfeuerleitung." Und dann strudelt der Torpedo auf das Ziel los. Landet allerdings auf M3, so dass Willi gut lachen hat: "Wegen dem Schuss wird kein Mütterlein weinen!"

Und schon macht er sich mit dem gleichen lustvollen Eifer daran, sich den gegnerischen Schiffsverband vorzuknöpfen. Mit 70 Atü schießt die "Stahlzigarre" hervor und triff einen von Walters imaginären 15000-Tonnern am Heck.

Und so geht es, mit zuweilen rasender Geschwindigkeit weiter, ein Hin und Her, ein Riesenspaß. Zwei-, dreimal aber schieben sich Walters wahre Erlebnisse dazwischen. Dann ist es mit der Schilderung der Schießvorbereitungen nicht getan, dann werden auch die Folgen der Treffer plastisch geschildert: "Da platzen die Klöten, da leiert das Mus raus, Hirnschaum rumgespritzt in der braunen Brühe!" Willi mag diesen Teil nicht so gerne hören, am Ende aber, wenn alles in "Gottes Riesengrab" versunken ist, stimmt er dann doch mit ein ins erleichterte, leicht asthmatische Gelächter. Veteranenfreuden, deren bitterer Grund gerade so angedeutet wird.

Bei all den körperlichen und seelischen Verstümmelungen, die anklingen, bleibt eines unverletzt: die Sprache, der vollmundige Seemanns- und U-Boot-Jargon. Derart wonnevoll nehmen Martin Held und Günther Lüders als Walter und Willi Wörter wie Lancierrohrklappe oder Perimat in den Mund, dass sich der Hörer bei einem Fehlschuss bald selbst fragt: "Hat die Unterwasserdünung das Anvisieren erschwert? War es ein Kreisläufer?" Bei allem Witz und aller Schnelligkeit ist dies auch ein Stück von großer Treffsicherheit.

Ruhig tastend, leise und geradezu flüsternd kommt dagegen Jürgen Beckers "Bahnhof am Meer" daher: Ein Schriftsteller fährt im Winter nach Ostende, erinnert sich an diesen Ort seiner Kindheit, an die kindlich-faszinierte Lektüre der Autobiografie des "Roten Barons", Manfred von Richthofen, wie auch an Irmgard Keun, für die Ostende ein Ort des Exils war. Bilder des 20. Jahrhunderts also werden hier sanft überblendet, ein nebelgedämpfter Erinnerungsraum geöffnet.

Stellt man dieses Stück nun neben das viel schnellere, grellere, diabolischere "U-Boot-Spiel", so zeigt sich - ohne dass man sich für das eine oder andere entscheiden muss - am Ende doch die Vielgestalt des Hörspiels in den letzten sechzig Jahren.

Bilanz. Hörspielkunst aus den Studios des WDR. Herausgegeben von Wolfgang Schiffer und Michael Serrer in der Schriftenreihe der Kunststiftung NRW. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2016. 10 CDs und ein Begleitband, ca. 600 Minuten, 29,90 Euro.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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