Sachbuch:Im Reich der roten Tinte

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Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun will erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten. In ihrem Buch mit dem gruseligen Titel "Blutsbande" verarbeitet sie unter anderem Erkenntnisse von Max Weber.

Von Burkhard Müller

Blut ist ein ganz besondrer Saft! So spricht der Teufel, der darauf besteht, dass Faust die Unterschrift, durch die er seine Seele der Hölle verkauft, mit dieser und keiner anderen Flüssigkeit leiste. Drei Dinge sind hier auf engstem Raum zusammengedacht, deren innige Verwandtschaft den Kern von Christina von Brauns umfangreichem Werk "Blutsbande" darstellt: Blut, Schrift und Tausch, wobei zum bevorzugten Mittel des Tauschs das Geld wird. "Blutsbande" nennt sie ihre Kulturgeschichte der Verwandtschaft, oder genauer, wie es der Untertitel formuliert: "Verwandtschaft als Kulturgeschichte". Es ist ein Buchtitel, der fast gruselig wirkt, weil er das unheimliche Alte in so leuchtend roten Lettern auf dem Umschlag erstrahlen lässt. Das scheinbar Alte: Denn die Bande des Bluts als konstituierendes Element der familiären Zusammengehörigkeit, auch wenn sie tun, als wären sie zeitlos über allen Wandel erhaben, sind, vergleichsweise, jung. Das ist Brauns zentrale These.

Sie spricht vom Blut als von einer "roten Tinte", ein Ausdruck von starker Suggestionskraft. Braun meint damit, dass die Abstammung in "Blutlinien" erst in dem Augenblick vollumfänglich erfasst und kodifiziert werden kann, als das Medium der Schrift sie dauerhaft festhält und in einen externen Speicher überführt, in eine Aktenlage. Blut erscheint als Natur schlechthin, als Kultur schlechthin dagegen die Tinte. Aber erst die kulturelle Leistung bewirkt, dass man der vermeintlichen Natur jenen absoluten Respekt zollt, den sie vorher so nicht besessen hatte.

Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 Seiten, 30 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: Verlag)

Vom Blut war zwar schon immer die Rede, speziell im Alten Testament; aber nicht im Sinn erblicher Kontinuität, sondern als Sitz des Lebens jeder einzelnen Kreatur. Dieses neue Blut jedoch bildet einerseits einen verlässlichen Bestand, und andererseits kreist es: Darin, so behauptet die Autorin, gleiche es der Geldwirtschaft. Im gezeichneten Stammbaum, einem direkten Abkömmling der Schrift, stelle jeder Einzelne nur einen Knoten dar, der in bestimmtem Verhältnis zu den anderen steht. Diese Auffassung trete gegen Ende des Mittelalters ein und beginne ihre Kraft erst in der Gegenwart mit ihren gelockerten Sitten und erweiterten Reproduktionsmöglichkeiten zu verlieren. Doch auch hier treibe das alte Blut sein Wesen weiterhin, teils in schwer erkennbarer und widerspruchsvoller Weise. Über all das ließe sich streiten; und man ist gespannt, was Braun zur Erhärtung vorzutragen hat.

Das ist leider nicht so viel, wie man erhofft hatte. Bei der Parallelität des "modernen" Bluts zum Geld zum Beispiel weiß man nie so genau, wo hier die strukturelle Entsprechung läge; über die Metapher und höchstens die Analogie von "Liquidität", "Zirkulation" usw. geht sie nicht hinaus. Immer wieder kommt der Leser an Stellen, wo er die Autorin drängen möchte: Jetzt bringen Sie es doch bitte auf den Punkt!

Die Autorin ist den Verlockungen jeder sich empfehlenden Ähnlichkeit schutzlos ausgeliefert

Doch geht dieser Augenblick immer folgenlos vorüber. Dass hier keine schlüssigere Argumentation gelingt, hängt auch damit zusammen, dass die Autorin die neuzeitliche Geldwirtschaft bereits in der Antike durchgesetzt sieht und umgekehrt den modernen kapitalistischen Kredit frohgemut auf das archaische Modell des Gabentauschs zurückführt - was, vorsichtig ausgedrückt, nicht weiterhilft. Da sie über keine eigentliche Methode verfügt, ist sie schutzlos den Verlockungen jeder sich empfehlenden Ähnlichkeit ausgeliefert. Sie umkreist ihre Sache, aber stets in einigem Abstand. Es macht den Leser erst unruhig; dann beginnt es ihn zu frustrieren und schließlich zu langweilen, dass all diese Textmassen letzten Endes zu so wenig führen. Das Buch, das nichts auslassen mag, verdammt sich selbst zur Nacherzählung vieler Dinge, die anderswo schon deutlicher dargestellt worden sind, von Max Webers Herleitung des Kapitalismus aus dem calvinistischen Ethos bis zum angeblichen Hostienfrevel der Juden im Mittelalter. Auch die historischen Kategorien, mit denen Braun operiert, geraten recht unspezifisch. Sie stellt den Süden gegen den Norden, das Mittelalter gegen die Neuzeit, ohne diese Begriffe näher zu bestimmen. Das "Mittelalter" aber dauert tausend Jahre, es beginnt mit den Finsternissen der Völkerwanderung und endet mit dem Buchdruck. Natürlich lässt sich ein Thema wie die Geschichte der verwandtschaftlichen Beziehungen nicht abhandeln, ohne dass man das Ganze von Gesellschaft und Geschichte im Auge behält. Gerade deshalb freilich hätte es eines klareren Plans bedurft. Braun hat ungeheuer viel gelesen, ist aber schließlich von ihrer Lektüre überwältigt worden.

Das Buch hat einen erkennbaren Kondensationskern: Es interessiert sich zentral für die Frage, wie es im Judentum zum Wechsel von der patrilinearen zur matrilinearen Berechnung der Abstammung kommen konnte - wohlgemerkt ohne dass es dabei seinen patriarchalischen Charakter aufgegeben hätte. Dass die Eigenschaft, Jude zu sein, nun von der Mutter und nicht mehr vom Vater ererbt würde, bringt Braun in Zusammenhang mit der Erfahrung der Diaspora. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. und der Zerstreuung der Juden in alle Welt habe es keinen territorialen Ort mehr gegeben, der eine sichere Verknüpfung des Volkes Israel verbürgt hätte, sondern nur noch den Körper der Frau (und die Heilige Schrift, das "portative Vaterland"). Denn es gilt: Die Mutter steht immer fest, der Vater nie. Folgerichtig lasse sich seit Gründung des Staates Israel eine Tendenz erkennen, der väterlichen Herkunft neue Bedeutung zuzuschreiben. Das klingt plausibel.

Blutsbande entstehen und vergehen nicht, sie liegen vor

Mit allem, was das Judentum betrifft, kennt Braun sich sehr gut aus, und der Leser kann hier viel lernen. Außerhalb davon ist sie nicht gleichermaßen sattelfest. Das athenische Fest der "Adonia" verschreibt sie konsequent als "Adonai", was einer der hebräischen Namen Gottes ist. Gern verwendet sie lateinisches und griechisches Vokabular, doch ihre Kenntnis dieser Sprachen ist wackelig. Und wenn man immer wieder auf kleine Fehler stößt - etwa dass der heilige Isidor von Sevilla, der im 6./ 7. Jahrhundert lebte, ins 12. verlegt wird oder Aeneas (statt Romulus) als der Gründer Roms auftritt -, dann mögen sie als solche nicht viel bedeuten; aber sie fördern beim Lesen ein gewisses Grundmisstrauen.

Doch der Hauptgrund dafür, dass der Ertrag des Buchs so schmal und ungewiss bleibt, liegt woanders. Die Autorin macht sich keine grundsätzlichen Gedanken über das Verhältnis von Kultur und Natur. Natur ist ein Konstrukt, das stimmt schon, besonders wo sie als Argument herhalten soll; aber eben nicht nur. Natur ist auch die Voraussetzung, der alle Kultur aufruht und die von Kultur zugerichtet wird. Sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. Um ein Beispiel anzuführen, das weniger kontrovers sein mag als Verwandtschaft und Geschlechtlichkeit: Der Mensch muss essen, sonst verhungert er, darin gleicht er den anderen Tieren. Aber wie das geschieht, ob stehend, sitzend oder liegend, ob im großen Kreis oder alleine, ob mit Fingern oder Hummerschere, ob vegan oder robust mit halbrohen Steaks: darin besteht die kulturelle Ausformung der Natur (die sich hier als ein Bedürfnis präsentiert).

Wer das nicht berücksichtigt, der wird Schwierigkeiten haben, Knigge und den Verdauungsprozess auseinanderzuhalten. Und so auch stellen sich (mindestens vor der modernen Reproduktionsmedizin, die nun in der Tat für Neuerungen sorgt) Fortpflanzung und Abstammung als ein natürliches Faktum dar, das notwendig in verschiedenen Kulturen unterschiedlich betrachtet und gewichtet wird, aber immer zunächst einmal vorhanden ist.

"Blutsbande" entstehen und vergehen nicht, sie liegen vor und werden von jeder Epoche und Gesellschaft irgendwie ins System einbezogen. Ihre Einschätzung ändert sich, jedoch niemals in einem so radikalen Paradigmenwechsel, wie Braun es behauptet. Das Buch beginnt mit der Setzung: "Die Mehrheit der Menschen auf der Welt geht nicht davon aus, dass sich Verwandtschaft durch ,Blutsbande' konstituiert. Sie wird nach ganz anderen Merkmalen definiert: gemeinsames Wohnen, die Nahrung teilen, sich von demselben Boden ernähren, zusammen arbeiten, miteinander leiden." Dafür aber liefert es keinen Beweis. Wie auch: In den meisten Fällen dürfte es sich so verhalten, dass die Genossen des Alltags wie selbstverständlich auch die Mitglieder derselben, durch Abstammung verbundenen Sippe sind, und umgekehrt; und beides so innig zusammengehört, dass man es gar nicht auseinanderkennt und nicht eigens thematisieren musste. Letztlich handelt es sich, wie auch Braun zugibt, um ein kontinuierliches Spektrum, das sich zwischen den Polen der leiblichen Verwandtschaft und der sozialen Bindung aufspannt. Das aber wussten wir schon.

© SZ vom 19.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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