Sachbuch:Die Märchen der Moderne

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Fakten und Fiktionen: Der Soziologe Jens Beckert analysiert mit den Mitteln der Literaturwissenschaft die Zukunftsbilder im Kapitalismus.

Von Steffen Martus

Im Jahr 2010 hat der Literatur-und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl mit seinem großen Essay "Das Gespenst des Kapitals" für intellektuelle Furore gesorgt. Anlässlich der globalen Finanzkrise legte er mit weiten historischen Ausgriffen dar, dass Krisen und Crashs keine zu vermeidenden Unfälle des Marktgeschehens sind, weil das Wirtschaftssystem Turbulenzen durch seine Eigenbewegungen selbst erzeugt. Sie gehören ebenso elementar zur modernen Finanzökonomie wie Fantasien und Fiktionen, denn jede Vorstellung substanzieller Deckung hat sich überholt.

Vor allem aber wies Vogl darauf hin, dass die ungewisse Zukunft als wesentliche Ressource unseres ökonomischen Systems dient. Daher sorgen Meinungen sowie Meinungen über Meinungen für jene Wertschätzungen, mit denen gigantische Gewinne und Verluste erwirtschaftet werden. Die "imaginierte Zukunft" und die Erwartungsspiele des Kapitalismus betrachtet Jens Beckert nun aus einer soziologischen Perspektive. Bedauerlich daher, dass er an die vom "Gespenst des Kapitals" begeisterte Debatte nicht direkt anschließt, obwohl er eine höchst ungewöhnliche interdisziplinäre Brücke schlägt: Ausgerüstet mit Fiktionalitätstheorie und Erzähltextanalyse rückt er der Wirtschaft als Soziologe mit den Mitteln der Literaturwissenschaft kritisch auf den Leib.

Den dominierenden sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die die Zustände des Kapitalismus aus der Geschichte heraus erklären, setzt Beckert seinen Schlachtruf entgegen: "Die Zukunft zählt". Damit soll nicht weniger als die "Grundlage eines neuen soziologischen Paradigmas" gestiftet werden. Selbstverständlich ist die Zukunft für keine Kultur irrelevant. Während jedoch kommende Ereignisse in der Menschheitsgeschichte vor allem als Wiederkehr der Vergangenheit gedacht wurden, bildet der Kapitalismus eine andere "temporale Ordnung" aus und setzt eine Innovationsspirale in Gang. Er erzeugt durch Wettbewerb und Kreditwesen sowie durch die sich selbst verschlingende Kraft des Konsums einen "systemischen Druck". Die Akteure sehen sich energischer als in jeder anderen Wirtschaftsordnung zuvor dazu gezwungen, Vorstellungen des noch nie Dagewesenen zu entwickeln und sich daran zu orientieren. Mögliche Zukünfte werden zu notwendigen Faktoren aktueller Entscheidungen, und zwar nicht in Situationen des kalkulierbaren Risikos, sondern unter Bedingung elementarer Ungewissheit.

Die Zukunft ist nicht in der Gegenwart enthalten. Beckert betont, dass wir nicht wissen können, was kommen wird. "Gesellschaft und Wirtschaft sind unendlich komplex, und die Zukunft ist offen: In Wahrheit können wir eigentlich nichts vorhersehen." Ihm geht es nicht um ein Erkenntnisdefizit, das sich beheben lässt. Auch die Vorhersageinstitutionen des politischen und ökonomischen Systems haben keine Ahnung von der "offenen Zukunft", obwohl sie ständig simulieren, sie könnten damit rechnen. Um es klar zu sagen: "Die wenigsten makroökonomischen oder technologischen Prognosen erweisen sich als zutreffend". Die Funktion der modernen Orakel liegt offenkundig nicht darin, dass ihre Vorhersagen stimmen, sondern in ihrer "Glaubwürdigkeit in der Gegenwart". Dieses eigentlich überraschende Vertrauen auf Verlässlichkeit genügt, um die Akteure bei der Stange zu halten.

Dabei spielen die von Beckert so genannten "fiktionalen Erwartungen" eine zentrale Rolle. Bei Zukunftsentwürfen handelt es sich eben nicht um ein "Vorauswissen", sondern um "kontingente Imaginationen", das heißt um Vorstellungen, die bei veränderter Stimmungslage und Fantasiefähigkeit immer auch anders ausfallen könnten. So anregend literarische Fiktionalitätskonzepte von Beckert eingesetzt werden, erscheinen sie aus literaturtheoretischer Perspektive nicht unproblematisch. Beckert stellt "fiktionale Erwartungen" den "rationalen Erwartungen" gegenüber. Der eigentliche Oppositionsbegriff wäre aber "faktuale Erwartungen", die es jedoch nicht geben kann. So verliert die Auszeichnung "fiktional" ihr Gegenteil und damit ihren spezifischen Sinn. Diese Begriffsstruktur lässt sich nicht einfach suspendieren, weil literarische Fiktionen - anders als Erwartungen - nicht falsifizierbar sind.

Dieses Buch verzaubert die nur scheinbar rationale Welt der Ökonomie

George Orwells "1984" ist seit dem 1. Januar 1985 nicht widerlegt, weil die Welt dieser Dystopie doch noch nicht gleicht, wohingegen sich die Prognosen der Banken und Finanzinstitute seit dem 15. September 2008, dem Tag der definitiven Pleite von Lehman Brothers, schlicht als falsch herausgestellt haben. Anders als Beckert meint besteht darin eine wesentliche Pointe von literarischer Fiktionalität, wenn man den Begriff nicht inflationär verwenden möchte. Es handelt sich um etwas anderes als etwa "Glaubenssysteme" oder glaubwürdige "Imaginationen" im Allgemeinen.

Beckert also betont mit dem Hinweis auf die "imaginierte Zukunft" die Kreativität der ökonomischen Einbildungskraft. Im Rahmen einer "Politik der Erwartungen" besteht die Macht der Akteure in ihrer Fähigkeit, Erwartungen zu evozieren und zu manipulieren. Von hohem aufklärerischem Wert ist daher Beckerts Analyse der Beglaubigungsverfahren und -signale, die für das Vertrauen in eine bestimmte Zukunft sorgen. Dazu dienen nicht zuletzt märchenhaften Erzählungen, die komplexe Zahlenwerke mit Sinn versehen. "Sämtliche Marktteilnehmer erzählen Geschichten, um die Zuversicht der Investoren zu beeinflussen, dass sich die Märkte in eine bestimmte Richtung entwickeln werden". Die Abkopplung der Finanzströme von irgendwelchen Sachwerten, die seit den Neunzigerjahren vehementer denn je betrieben wurde, ging nicht umsonst mit der Gründung neuer Finanzzeitungen sowie spezieller TV-Kanäle für Wirtschaftsnachrichten einher. So bleibt am Ende die Verwunderung darüber, warum alles einfach so weitergeht, auch wenn es kaum Belege dafür gibt, "dass die zukünftige Wirtschaft jemals in Übereinstimmung mit der in den Wirtschaftslehrbüchern beschriebenen Welt stehen wird". Jens Beckerts "historische Wirtschaftssoziologie der Zukunftsimaginationen" verzaubert die nur scheinbar durchrationalisierte Moderne und gesteht den Akteuren zugleich neue Handlungsmacht zu. Sie müssen nur an ihren Fantasien arbeiten.

Jens Beckert: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus. Suhrkamp -Verlag, Berlin 2018. Seiten, 42 Euro. E-Book 36,99 Euro.

© SZ vom 07.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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