Russland verstehen:Pumps und Pkws

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Russland verstehen: Über die "praktisch nicht herzustellende Wirklichkeit" in dem riesigen Russischen Reich berichtet in einem erhellenden Buch der Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid.

Von Franziska Augstein

Misst man die russische Staatsführung an westlichen Vorstellungen von Demokratie, fällt das Ergebnis verheerend aus. Präsident Putin geht daraus als selbstherrlicher Verächter demokratischer Prozesse, wenn nicht des Wählervolks selbst hervor. Die Frage, warum viele Russen das nicht zu merken scheinen und Putin dennoch verehren, wird beantwortet mit dem Verweis auf die vom Kreml betriebene mediale Indoktrination der Bevölkerung sowie auf Putins emsiges Bemühen, sich als starker Max zu präsentieren, in der Nachfolge Stalins und berühmt-berüchtigter Zaren.

Der sinkende Ölpreis hat für große Teile der russischen Gesellschaft Entbehrungen mit sich gebracht. Aber anstatt ihren Präsidenten dafür verantwortlich zu machen, nimmt eine Mehrheit der Russen das klaglos hin. Diesbezüglich wird im Westen gern auf die nicht bloß sprichwörtliche Leidensfähigkeit des Volkes verwiesen. Die ist auch heute gewiss viel größer als zum Beispiel in der Bundesrepublik. Aber reicht das zur Erklärung hin, warum Putin bei sich zu Hause immer noch sehr angesehen ist? Ganz so einfach kann es nicht sein, oder doch?

Viele unterscheiden aus Tradition zwischen dem guten Herrscher und der bösen Staatsmacht

In seiner fabelhaften Analyse "vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur" gibt Ulrich Schmid einen Einblick in Topoi des Denkens, die westlichen Gesellschaften spätestens seit der Zeit der Aufklärung ziemlich fremd sind. Der Staat, schreibt Schmid, sei in Russland seit Jahrhunderten als "metaphysisch begründete Ordnung" verstanden worden, "als Organismus, dessen Elemente in einer prästabilierten Harmonie angeordnet sind". Das habe zu einer "symbolischen Trennung des Machthabers von seinem politischen Amt geführt".

In Nazi-Deutschland redeten sich die Leute ihren Hitler schön, indem sie angesichts beunruhigender Detailmaßnahmen konstatierten: Wenn das der Führer wüsste! Hitler war für alles verantwortlich. Angesichts von Schrecklichkeiten musste ihm also Nicht-Wissen unterstellt werden. Solche Ausweichargumentation war und ist in Russland Schmid zufolge nicht nötig: Auf der traditionellen "Unterscheidung zwischen einem idealisierten Herrscher und einer bösen Staatsmacht" beruhe "das scheinbare Paradox, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Regierung misstraut, gleichzeitig aber den Präsidenten mit hohen Zustimmungsraten unterstützt". Hinter allem, was schlecht läuft, stehe in der öffentlichen Wahrnehmung "die gesichtslose Bürokratie".

Ein Herrscher, der für sein Tun vom Volk nicht verantwortlich gemacht werden will, muss brachial PR betreiben. Darauf war schon Boris Jelzin, Liebling des Westens, dringend angewiesen. Schmid zitiert aus einem aufschlussreichen Papier. Als 1996 Jelzins Wiederwahl anstand, die vom ersten Tschetschenienkrieg und einer miserablen Wirtschaftslage überschattet wurde, waren seine Helfer eifrig damit beschäftigt, Gegenkandidaten öffentlich zu diskreditieren.

Jelzins damaliger publizistischer Zuarbeiter Gleb Pawlowski machte Vorschläge zur medialen Verklärung des Präsidenten: "Notwendig ist die Schaffung eines Images, d. h. eines symbolischen Images einer zwar notwendigen, aber (. . .) praktisch nicht herzustellenden Wirklichkeit. (. . .) Der Präsident muss wieder der ,Herrscher über die Gefühle' der Bevölkerung werden, ihr ,Held'." Jelzin gewann die Wahlen. Höchstwahrscheinlich hat Putin daraus gelernt.

Dankenswerterweise zitiert Schmid viel aus den Studien russischer Wissenschaftler. Die Soziologin Natalja Subarewitsch hat 2012 Russland als ein Reich von drei Sphären beschrieben: "Russland 1" - das sei die urbane, westlich orientierte Bevölkerung. Um sie bemühe Putin sich nicht mehr. "Russland 2" seien die "hauptsächlich von Industriebetrieben geprägten Provinzstädte". "Russland 3" bezeichne die ländlichen Regionen. Russland 2 und Russland 3 seien die Gegenden, um die Putin sich kümmere, um seine Macht zu erhalten. Das mag aus seiner Sicht sinnvoll sein: Dort lebt die Masse des Volkes.

Westliche Wissenschaftler besuchen vor allem russische Universitäten und Großstädte. Der Mangel an Vertrautheit mit dem Riesenland führt dazu, dass manche vielleicht etwas vorschnell einen baldigen Umsturz des "Systems Putin" voraussagen. Westliche Wissenschaftler setzen auf die urbane Mittelschicht, wie sie an den Universitäten anzutreffen ist, wo die Kritik an der russischen Staatsführung sehr oft in zornige Resignation umschlägt: Viele junge, talentierte Leute ziehen es vor, ihr Glück in anderen Ländern zu suchen.

Dass es eine "Mittelschicht" im westlichen Sinn gebe, bestreitet indes der Soziologe Alexander Bitkow. Aus dessen Sicht, so Schmid, sei "die vielbeschworene neue ,Mittelklasse' (. . .) eine Konstruktion der Medien", um die Demonstrationen gegen Putin zu erklären. "In Tat und Wahrheit", zitiert Schmid weiter, sei die ,Mittelklasse' "ein Produkt der Breschnew-Zeit".

Der Autor hat ein Faible für das Land, auch wenn er vieles gern anders sähe

Breschnew achtete darauf, Konsumbedürfnisse möglichst zu befriedigen. Der Art von Mittelklasse, die damals entstand, so Bitkow, sei mehr an Pumps und Pkws gelegen gewesen als an politischer Partizipation.

Im Verlauf seines Buches gibt Ulrich Schmid einen guten Überblick darüber, was in der russischen Gegenwartskultur von Belang ist: Pop-Gruppen, Theaterperformances, Kunstspektakel, Filme. Er schildert private Initiativen, die über die social media großen Zuspruch erfuhren, ebenso wie die Aktionen von Staates Seite und deren Vordenker.

Schmids Leser merken zwei Dinge: Der Autor, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, hat ein Faible für Russland, auch wenn er vieles gern anders sähe. Und: Er gefällt sich nicht im wohlfeilen Putin-Bashing. Sein Buch setzt all jenen ein Licht auf, die nicht viel von Russland wissen, aber gern mehr verstünden.

Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 386 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

© SZ vom 09.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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