Russland:Alles "normalna"?

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Fredy Gareis reist durch das Land seiner Vorfahren und findet: viel Wodka, Stolz und Haifischzähne am Ural.

Von Monika Maier-Albang

Was tun in Moskau, wenn man betrunken am Steuer sitzt und die Polizei mit Blaulicht hinter einem her ist? Motor abstellen, Tür aufreißen und so schnell es geht davonrennen. Es ist besser und billiger, so lernen wir von Fredy Gareis, das abgeschleppte Auto ein paar Tage später auszulösen, als sich erwischen zu lassen.

Der Blick auf Russland, den Gareis in "100 Gramm Wodka" wagt: Manchmal ist er fast zu klischeehaft. Aber es wird wohl stimmen, was er da beschreibt. Er ist drei Monate durchs Land gereist, quer durch die Zeitzonen und seiner eigenen Familiengeschichte entgegen. Sein Ziel ist der Himbeersee in der Region Altai. Das klingt so schön, wie es dort einst grausam war. Seine Großmutter überlebte elf Jahre das Lager Malinowoje Osero. Gareis' Vorfahren sind Russen deutscher Abstammung, Großbauern, sogenannte Kulak, die in der Ukraine Wein anbauten, bis Stalin die Bauern zwangskollektivierte. Von 1933 an wurden sie herumgeschubst quer durch Europa; am Ende, im August 1945, in Güterwaggons nach Sibirien verfrachtet.

Die Leichtigkeit des Lebens und die Sehnsucht nach dem starken Mann - alles "normalna"

Die Odyssee, die Gareis nachzeichnet aus den Erinnerungen der wenigen Verwandten, die mit ihm darüber sprechen wollen, ist beklemmend aktuell. Den Syrern und Afghanen, die sich nach Deutschland schleppen, bleibt oft auch nicht mehr als den Flüchtlingen damals: ein Beutel voll Kleidung. Ob sie auch einmal ihre Kinder anschweigen werden? "Was wir erlebt haben, soll dich nichts angehen", war das einzige, was Gareis dazu von seiner Großmutter zu hören bekam. Sie durfte 1976 in die fremde Heimat auswandern, ist aber von Deutschland enttäuscht gewesen.

Fredy Gareis: 100 Gramm Wodka. Piper Verlag, München/Berlin 2015. 252 Seiten, 14,99 Euro. E-Book: 12,99 Euro. (Foto: verlag)

Das Buch kratzt an der Seele. An der des Autors, an der des Lesers. Es nähert sich Russland mit Entdeckerfreude, die aber nicht unbefangen ist. Dazu hat Gareis zu Hause dann doch zu viel mitbekommen. Manchmal allerdings wünscht man sich weniger persönliche Vergangenheitsbewältigung, dafür mehr Russland heute.

Der Leser, den Gareis mitnimmt durch jenes Russland, das gerade die Ukraine bedrängt, erlebt mit ihm das Fremde, das so anziehend auf Westeuropäer wirkt: die Geselligkeit, die Improvisationsfreude, die Gastfreundschaft, die bis ins abgelegene Dorf in Tschuwaschien reicht, wo Gareis an einem Hochzeitsgelage teilnimmt. Essen, trinken, essen, trinken. Trinken, trinken, trinken. Alles normalna. Er nähert sich Galina und Jura, Alessia und Vadim, die ihm Russland zeigen. Und erschrickt, wenn sie Putin hochleben lassen - den von vielen ersehnten starken Mann.

Gareis will "die Schnittmenge des Russischen und des Deutschen erforschen". Da gibt es wenig. Dennoch scheint bei Russen wie Deutschen eine Sehnsucht zu wachsen nach dem Freund, den man gerade gefunden hat und den man nicht aufgeben will. Die Schnittmenge ist Gareis letztlich selbst. Ohne eine Familiengeschichte wie die seine lässt sich diese Reise nicht nachreisen. In die Banja gehen und schwitzen, Haifischzähne im Ural suchen, Wodka flaschenweise leeren, das kann man natürlich trotzdem.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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