Russische Gegenwartsliteratur:In der Worthölle

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Der ausweglose Kapitalismus tritt das Erbe des verblichenen Kommunismus an: Julia Kissinas Anthologie "Revolution Noir" versammelt Autoren der russischen "neuen Welle".

Von Sonja Zekri

Sie war bereit. Schon wegen ihrer Mitbewohner, wegen Wassiljok, der in einem Zimmer so lang und schmal wie ein Sarg wohnte, Kusma, des Hexers, und des etwas unheimlichen Nikifors, drei Jahre alt, genannt "Säugling". Endlos hatten sie sich mit ihr, Jekaterina Petrowna, abgeplagt, sie unterhalten, gepflegt, gefüttert, den Nachttopf gewaschen. Denn sie siechte dahin, Monate schon. Nur mit dem Sterben klappte es nicht.

Insofern war es eine Bitte, die abzuschlagen geradezu herzlos gewesen wäre, als die Bewohner ihrer Kommunalwohnung Jekaterina nahelegten, sich lebendig begraben zu lassen. Deckel drauf, bewegende Beisetzung, und die Sache wäre erledigt. Aber so leicht war das natürlich nicht. Die Aussicht, bei lebendigem Leibe verscharrt zu werden, kann einen Menschen verwirren. Mal war die Alte bereit, mal bockig, stand auf, lief herum, verlangte Tee und Marmelade. Dann wieder fand sie plötzlich Geschmack am Sterben: "Ich bin ganz versessen drauf." Kurz, die Sache zog sich. Und je länger sie dauerte, desto komplizierter wurde der technische und bürokratische Ablauf dieses Übergangs, während der eigentliche Unterschied zwischen Leben und Tod mehr und mehr aus dem Blick geriet.

Am Ende ist auch jede postsowjetische Literatur ohne die Sowjetunion nicht denkbar

Jurij Mamlejews Text "Sprung in den Sarg" ist die einzige Geschichte in "Revolution Noir", für die es keinen Textnachweis gibt. Man ahnt, dass sie zu Sowjetzeiten entstanden ist. Die Kommunalwohnung, die Defizit-Wirtschaft (Särge sind schwer zu bekommen), der ramponierte Bus atmen den Geist jener Tage. Aber das sind nur Indizien. Denn eine Erkenntnis nach der Lektüre von Julia Kissinas literarischem "Revolutions"-Band liegt darin, dass die Underground-Literaten der Sowjetzeit ihre literarischen Techniken, ihre heiter dargebotenen Schrecken, ihr Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit, ihre Freude an Sprach- und Sinnverwüstungen ins postsowjetische Zeitalter überführt haben, vulgo: in den Kapitalismus.

Julia Kissina, die 1966 in Kiew geboren wurde, nennt die Autoren ihrer Anthologie die "dritte Avantgarde", dabei spricht einiges dafür, dass sie als literarische Strömung durch ihr Buch überhaupt erst sichtbar werden, ja, entstehen. Ihre Rechnung geht so: Die erste Avantgarde war die Kunst der Revolution, Wladimir Majakowski, Swewolod Meyerhold, Sergej Eisenstein. Die zweite Avantgarde betrat während des "Tauwetters" nach Stalins Tod die künstlerische Bühne, so Kissina, die dritte aber begann nach dem Ende der Sowjetunion und setzt sich fort bis heute: "Sie ist dunkel, komisch, karikaturistisch, lyrisch, feinsinnig und komplex."

Damit ist erst einmal alles und nichts gesagt. So mag als Hinweis für jene, die zwar Wladimir Sorokin kennen, aber mit Künstlern wie Alexander Pjatigorskij nicht viel anfangen können, Julia Kissina selbst dienen. Ihr Erfolgsroman "Elephantinas Moskauer Jahre" beschrieb die Höllenfahrt einer jungen Dichterin in einer Stadt ohne Gnade, aber mit orgiastischen Lesungen und gutem Plow. Und diese hochtourige, sprachverliebte Groteske weist sie selbst als würdige Schwester der "dritten Avantgarde" aus. Am Ende ist auch jede postsowjetische Literatur ohne die Sowjetunion nicht denkbar.

Der Philosoph Boris Groys hat früh beschrieben, dass die monströsen Texte Sorokins, Wiktor Jerofejews oder eben Mamlejews zu Sowjetzeiten literarische Befreiungsversuche waren, Reaktionen auf endlose sinnentleerte Sprach- und Textmassen des sowjetischen Alltags und der sowjetischen Propaganda. Sorokins frühe literarische Ready-Mades, die Seite um Seite vom Stil des goldenen Zeitalters, also der Puschkin-Zeit, zu Pulp-Fiction und wiederum zum sozialistischen Realismus wechselten, waren eine Methode, um der Überwältigung durch die Sowjetsprache etwas entgegenzusetzen. Eine lag in der Erschaffung eines wahnsinnigen Kosmos, "indem es grundsätzlich keine Normalität gibt, die aber auch gar nicht erwartet oder angestrebt wird". Eines Kosmos, in dem Menschen beispielsweise lebendig begraben werden wollen.

Interessanterweise wirkt der Kapitalismus auf die Literaten der Anthologie offenbar ähnlich ausweglos, ähnlich repressiv wie die Sowjetunion, jedenfalls sind die eskapistischen Reflexe der "Revolution Noir"-Autoren beachtlich. Eine eher konventionelle Konsum- und Technikdystopie ist Pavel Peppersteins unveröffentlichte Geschichte eines Flugzeuges, das Menschen frisst und nur durch den Einsatz eines Serienkillers aus dem Verkehr gezogen werden kann. Auch Sorokin verbindet in "Asche" aus dem Jahr 2010 auf bekannte Weise Ekelfantasien - ein neuer Nationalsport namens "Schwärkampf" lässt Sportler mit eitrigen Geschwüren gegeneinander antreten -, Thriller und Diktatursatire.

Die Versprechen der Werbung besetzen jeden Zentimeter, den die Sowjetpropaganda geräumt hat

Verführerischer sind Geschichten, in denen sich die Wahrnehmung selbst auflöst. Die Erzählung "In einer anderen Gesellschaft" von Alexander Pjatigorskij aus dem Jahr 2001 führt drei in die Jahre geratene Männer zusammen, die möglicherweise, aber sicher ist dies nicht, 1937 als Kinder den Mord an einem Spielkameraden in die Wege geleitet haben.

Pjatigorskij, der die semiotische Schule in Tartu und Moskau mitgründete, nach London emigrierte und 2009 starb, beschwört mit wenigen Sätzen eine Kindheit auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen herauf, um sich dann in eine schwindelerregende Plauderei über die Manipulierbarkeit der Erinnerung zu stürzen. "Meiner Meinung nach willst du einfach nicht, dass du eine Vergangenheit hast", sagt einer der drei: "Gar keine Vergangenheit." In einem Land, das seine Geschichte bestenfalls bruchstückhaft akzeptiert, könnte dies möglicherweise sogar eine mehrheitsfähige Ansicht sein.

Doch nicht nur die Erinnerungen lassen sich mit etwas gutem Willen formen, manipulieren, transformieren oder sonst wie veredeln, auch Träume, die Wahrnehmung, die irdische Welt schlechthin. Manches wird dabei, zugegeben, reiner Nonsens. Einige Geschichten bieten Seite um Seite konturenlose Textflächen, die erneut Gattungen, Stile, Genres imitieren. "Es war die Zeit einer unbeschreiblichen Worthölle", heißt es an einer Stelle im Buch. Das klingt fast entschuldigend.

Anderes aber schillert märchenhaft. Der Schriftsteller und Künstler Andrej Monastyrski beschreibt in seiner Geschichte "Der atheistische Spion" von 1998, wie der liebestrunkene Erzähler zum Engel wird - mit Flügeln! - und die schäbige, schimmelige, gewalttätige Moskauer Wirklichkeit in etwas Reines und Wahres verwandelt. Mitten im Winter scheinen ihm drei Soldaten plötzlich "in einem vollkommen ungewöhnlichen, silbrig himbeerfarbenen Licht", das Dinge, Menschen und Bäume erleuchtet und ihm die Welt "in ihrem idealen Wesen" zeigt, herrlich und atemberaubend schön.

Das ist Kitsch, aber es ist nicht kitschiger als die Versprechen der Werbung, die in Russland jeden Zentimeter eingenommen haben, der von den Wortungetümen der Sowjetpropaganda befreit wurde. Schon zweimal waren die Künstler der Avantgarde die aufregendsten, aufschlussreichsten Lotsen durch ihr Land. Nun können sie es wieder werden.

© SZ vom 22.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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