Roman über Gaddafi:Kein Schatten eines Zweifels

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Yasmina Khadra, der große politische algerische Erzähler, fantasiert über die letzten Stunden Gaddafis, skizziert den Größenwahn eines Mannes, der sich als "Bruder Führer" verstand.

Von JOSEPH HANIMANN

Seit dem kläglichen Ende in einem Kanalrohr vor vier Jahren erstarrt die Figur Muammar al-Gaddafis in der Erinnerung allmählich zu einem Monster neben anderen erledigten Geschichtsmonstern. Zwischen historischen Fakten und viel literarischer Fantasie verleiht der algerische Romancier Yasmina Khadra dem libyschen Gewaltherrscher nun ein neues Profil. In seinen früheren Werken "Die Attentäterin" oder "Die Sirenen von Bagdad" hat dieser Autor sich als Spezialist für fesselnde Situationsschilderungen, Detailblicke und Einfühlung in die tieferen Bewusstseinslagen seine Figuren ausgewiesen. Das bestätigt sich in diesem Buch, das den letzten Lebensstunden Gadaffis nachspürt.

Der vom eigenen Volk und den Bomben der Alliierten Gehetzte ist mit den Seinen in einer verlassenen Schule seiner Geburtsstadt Sirte verschanzt. Er triumphiert innerlich. Der Feind werde ihn kaum an diesem schäbigen Ort vermuten, denn er habe wohl vergessen, dass er, ein Beduine, vielleicht mehr noch als die Pracht seines Palasts den Reiz der Genügsamkeit schätze - so jubelt der gestürzte Diktator, wie um sich selber Mut zu machen. Mut brauchen aber mehr die schütter gewordenen Reihen seiner Generäle und Minister, deren Entscheidungsmöglichkeiten immer enger werden. Am Ort bleiben? Weiter fliehen? Mit welcher Deckung? Wohin?

Der "Bruder Führer" kann sich dagegen ganz seinen Wutanfällen, seinem nicht kleinzukriegenden Größenwahn hingeben: und seinen Erinnerungen an die große Zeit, an 1969, als er durch einen Staatsstreich sein Volk aus dem Dämmerzustand eines korrupten Königreichs geführt hatte. Das ärmliche Essen, das man ihm in seinem Versteck aufträgt, rührt er nicht an - "Ich bin ein Mystiker, es tut mir gut zu fasten". Haltung seiner Untergebenen in allen Situationen geht ihm hingegen über alles. Auch Schwerverletzte fordert er noch zum Geradestehen auf. Und wohin man ihn schließlich beim Ausbruchversuch aus dem Versteck unter dem feindlichen Bombenhagel mit dem gepanzerten Geländewagen fahren will, interessiert ihn schon kaum mehr. Sein Selbstbewusstsein verlangt auch im Untergang nach höheren und weiteren Dimensionen.

Dem Schriftsteller Khadra geht es weder um Ehrenrettung, noch um Diabolisierung der Figur. Er sucht im Dauer-Präsens aus der erzählerischen Ich-Perspektive zu rekonstruieren, was ein Diktator denken und fühlen mag, der seine letzte Stunde nahen sieht und in einer Mischung aus Wut, Resignation, Erinnerungsrausch, Verbitterung, visionärer Gelassenheit, aber ohne jeden Anflug von Skrupel über die begangenen Untaten egomanisch Bilanz zieht. Gegen die feudalen Ausbeuter seines Volks und gegen das italienisch parlierende muslimische Großbürgertum, das mit seinen Limousinen die einfachen Leute überfuhr, ohne sich nach ihnen umzuschauen, sei er als junger Offizier aufgestanden und habe gesagt: Es reicht! - erinnert er sich stolz. Doch das Volk habe ihn verraten. Er hätte härter durchgreifen müssen, denn das Volk, diese blökende Hammelherde, verstehe nur die Sprache der eisernen Hand - ist nicht Stalin, der Alt und Jung bis in den Schlaf verfolgte, von Lorbeer bekränzt und heiß beweint in seinem eigenen Bette gestorben?

Eher als Angst vor dem bevorstehenden Tod empfindet der gestürzte libysche Revolutionsführer Scham darüber, sich vor den Rotzlümmeln seines Volks in einem Kanalrohr zu verstecken. Doch sein Charisma hat ihn verlassen, er bringt es nicht über sich, hervorzutreten und zu sagen: Hier bin ich, fasst mich, wenn ihr es wagt. Fast bereut er, das Protektionsangebot von Hugo Chavez ausgeschlagen zu haben. Und in einem Anfall von besonderer Mutlosigkeit besucht ihn im Traum das Gespenst Saddam Husseins: Er zumindest wurde von seinen Feinden, den Amerikanern und deren Verbündeten, gehenkt.

Die persönliche Ausstrahlungskraft des Gewaltherrschers wird in diesem spannend geschriebenen Roman auch noch in ihrer Spätwirkung gezeigt. So sind die Aufständischen, als sie den Diktator schließlich aufgespürt haben, wie gelähmt aus Verblüffung, die verkörperte Allmacht plötzlich leibhaftig vor sie zu sehen, und wagen es zunächst nicht, Hand an sie zu legen. Umso brutaler folgt dann der Lynchmord. Khadra, der in früheren Werken die algerischen Terrorjahre und die Situation des Nahostkonflikts dargestellt hat, kennt das Getriebe zwischen Macht und Gewalt.

Weniger überzeugend sind in diesem Roman hingegen die lose hineinfantasierten Zusatzmotive, etwa das Motiv einer unglücklichen Jugendliebe Gaddafis oder das einer obsessiven Erinnerung an ein Selbstporträt van Goghs mit dem verstümmelten Ohr. Im sprühenden Sprachfluss der bewährten Übersetzerin bietet das Buch dennoch ein fesselndes Panorama davon, was einem Tyrannen im kurzen Schwebezustand vor dem Absturz ohne Auffangkraft des Zweifels noch alles durch den Kopf gehen kann.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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