Roman:Sie fehlt mir, meine schwarze Lady

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Die amerikanische Nobelpreisträgerin Toni Morrison sät in ihrer vielstimmigen Geschichte "Gott, hilf dem Kind" Zweifel daran, dass die Bitte des Titels erfüllt wird.

Von Ulrich Baron

Ich kann nichts dafür." Der jüngste Roman der 1931 geborenen amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison beginnt mit der Zurückweisung einer Schuld durch eine Frau, die nicht "Mutter" genannt werden will. Mit einer Zurückweisung hatte auch das Leben ihrer Tochter Lula Ann Bridewell begonnen: "Sie war so schwarz, dass sie mir Angst machte. Mitternachtsschwarz, sudanesisch schwarz."

So schwarz sei in den Familien beider Eltern schon seit Generationen niemand mehr gewesen, empört sich die Mutter, deren Ehe diesen Schock nicht lange überstanden hat, über das Kind, vor dem sie sich ekelte: "Ich weiß nur, Lula Ann zu stillen war für mich so, als hinge mir ein kleines Negerlein an der Brust. Ich gab ihr die Flasche, kaum dass ich zu Hause war." Um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, für diesen "Rückfall" verantwortlich zu sein, hat sie sich von ihrer Tochter nicht Mummy, sondern "Sweetness" nennen lassen und Zärtlichkeit durch Strenge ersetzt: "Lula Ann musste lernen, wie man sich benimmt, wie man auf der Hut ist und keinen Ärger macht."

"Ich fand, er war ein Raubtier" - und dass der Mann Bücher liest, macht ihn eher noch suspekter

So steht am Anfang dieses Buch eine Einführung in das, was man afroamerikanischen Selbsthass, aber auch Selbstbetrug nennen könnte - den Irrglauben, man könne Rassismus durch graduelle Assimilation besiegen. Aber Lula Ann ist in die Neunzigerjahre hineingeboren worden; die Zeiten hätten sich geändert, sagt man. "Schwarz ist das neue Schwarz", hat ihr Image-Berater gesagt und geraten, ihre "Lakritzenhaut" ausschließlich in weiße Kleidung zu hüllen. Aus dem "Landei-Namen" Lula Ann Bridewell ist so Bride geworden, eine betörende Braut, die als Bezirkschefin eines Modekonzerns im Jaguar durch die Gegend fährt.

Aber als Bride sich als zweite Ich-Erzählerin zu Wort meldet, ist ihr erster Satz: "Ich habe Angst." Wenig später ist ihr schönes Gesicht zu einer schmerzenden Masse rohen Fleisches zerschlagen worden, doch während diese Wunden langsam heilen, scheint Bride sich in ein "verängstigtes kleines schwarzes Mädchen" zurückzuverwandeln. Ihre Schamhaare verschwinden, dann ihre Brüste. Also noch ein "Rückfall" - zumindest dann, wenn man ihren Worten Glauben schenkt.

Meisterhaft im Verweben scheinbarer Widersprüche zu einem Bild - Toni Morrison. (Foto: Patrick Kovarik/AFP)

"Sie lügt", sagt hingegen ihre Freundin Brooklyn als dritte Ich-Erzählerin, deren Zuverlässigkeit nicht nur dadurch infrage gestellt wird, dass sie offensichtlich auf den Job der schwer misshandelten Bride spekuliert. Das blasse Mädchen mit den Dreadlocks, das der Protagonistin wie ein weißer Schatten anhängt, wird später gar als "abscheuliche Pseudofreundin" abgetan. Was soll man da erst von der vierten Ich-Erzählerin Sofia halten, die sich mit den Worten vorstellt: "Es ist mir verboten, mich Kindern zu nähern."

Doch gerade diese als "Ladymonster" zu einer langen Haftstrafe verurteilte Frau kennt eine monströse Lüge, mit der sich Bride ein wenig Mutterliebe erkauft hatte. Uneingeschränkt glaubhaft sind nur die Worte des kleinen Hippy-Mädchens Rain, die in Bride die erste echte Zuhörerin ihres Lebens gefunden hatte: "Sie fehlt mir, meine schwarze Lady."

Damit endet freilich vorerst auch die weibliche Wechselrede, und der Fokus richtet sich nunmehr auf die personale Perspektive des Mannes, der Brides neues Selbstvertrauen mit einem einzigen Satz zerstört hatte: "Du bist nicht die Frau, die ich will." Beunruhigend wirkt nunmehr schon der Einleitungssatz, der ihn in den Blick rückt: "Seine Fingerknöchel waren blutbefleckt, und die Finger schwollen schon an." Das lässt diesen Booker so wenig vertrauenerweckend erscheinen wie seine Charakterisierung durch Brooklyn: "Ich fand, er war ein Raubtier." Und dass dieser Mann, anders als Bride und Brooklyn, Bücher liest und studiert hat, macht ihn eher noch suspekter.

Wie es Toni Morrison dann auf ein paar Dutzend Seiten gelingt, nicht nur zu zeigen, dass auch in diesem "Raubtier" ein verängstigtes und gequältes schwarzes Kind steckt, wie sie lose Fäden und scheinbare Widersprüche dieser multiperspektivischen Erzählung in ein deutliches Bild einfügt, ist meisterhaft. Und wenn darin zunächst gegen manche epischen Instinkte verstoßen wird, so hat dies doch Methode.

Wie das Leben selbst steckt dieses Buch voller Überraschungen, auf die niemand - auch kein Erzähler - dessen Protagonisten und Leser vorbereitet hätte. Ein verängstigtes kleines schwarzes Kind kann hier zum Opfer werden, doch auch zur Nemesis, und zwei solcher Kinder können einander auf- doch auch zugrunderichten.

Dieser Roman ist ein altersweises Buch über Verantwortung, Fehlbarkeit und Verletzungen

Allein schon formal, durch die Wechselrede nur bedingt zuverlässiger Ich-Erzählerinnen, wird man als Leser in eine kindliche Rolle versetzt. Man muss sich zunächst mit dem begnügen, was einem gesagt wird, und das reicht oft nicht aus, um zu verstehen, was gemeint ist. Bookers fataler Satz "Du bist nicht die Frau, die ich will" reißt Bride den Boden unter den Füßen weg, weil er die mütterliche Zurückweisung auf ihre neue, erwachsene Rolle zu übertragen scheint. Aber darin liegt eine doppelte Ironie, die beiden verborgen bleibt. Es geht nicht um Brides Weiblichkeit, sondern darum, dass sie nicht der Mensch zu sein scheint, den Booker lieben könnte. Das aber beruht auf einem Missverständnis, auf zwei komplementären emotionalen Sprengsätzen, die in ihren Kindheitsgeschichten versteckt sind.

Am Schluss aber scheint einem unglücklichen Anfang ein Happy End zu folgen. Bride erwartet ein Kind: "Es ist deins", sagt sie zu Booker, und der trifft diesmal die richtigen Worte: "Es ist unseres." Am Ende also steht ein weiteres Kind, wieder ein Anfang: "Immun gegen alles Böse", soll es sein, "behütet vor Entführung, Schlägen, sexueller Gewalt, Rassismus". Aber dazu gehört der Satz: "So stellen sie es sich vor." Auf den Gesichtern des Paars liegen dazu ein "erschöpftes Lächeln" und "traumverlorene Leere". Wer wäre berufener, Wermutstropfen in den Wein ihrer Hoffnungen zu gießen als die verlassene Rabenmutter Sweetness? Lula Ann werde schon sehen, "was es bedeutet und wie es dich verändert, wenn du eine Mutter bist." Die Tirade endet mit den Worten, die der Roman im Titel trägt, "Gott, hilf dem Kind". Sie sind eher ein Hilferuf als ein frommer Wunsch.

So bleibt einem von diesem altersweisen Buch über Verantwortung, Fehlbarkeit und verletzende Missverständnisse der Menschen auch die Einsicht, dass Realismus und Ehrlichkeit sie nicht immer sympathischer machen.

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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