Roman:Mauer im Blick

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Marc Trévidic erzählt von einem jungen Islamisten. Der Autor weiß, wovon er schreibt, denn er hat ziemlich viel Erfahrung gesammelt auf diesem Gebiet: Als Ermittlungsrichter war er für Terroristen zuständig.

Von Joseph Hanimann

Das kommende Jahr wird fürchterlich werden, sagte Marc Trévidic in diesem Sommer nach der Ermordung eines Priesters durch einen Islamisten in der Normandie. Denn ein Land im politischen Wahlkampf sei ein besonderes Ziel für die Organisation "Islamischer Staat". Trévidic ist nicht einfach ein Angstmacher und Unheilverkünder. Zehn Jahre lang war er Ermittlungsrichter mit dem Spezialgebiet Antiterrorismus in Paris und er hat mehrere Sachbücher zum Thema geschrieben. Dies ist sein erster Roman. Das lässt aufhorchen.

Der Roman spielt in Tunesien vor und nach dem Arabischen Frühling. Ein französischer Maler namens Paul Arezzo siedelt sich auf einer Touristeninsel vor Sfax an, macht Bekanntschaft mit einer Fischerfamilie und weckt bei den begabten Kindern Ahlam und Issam die künstlerische Ader. Während die aufblühende Ahlam auf dem Klavier immer besser wird, lässt Issam seine grandiosen Zeichnungen plötzlich liegen und gerät in den Sog der Salafisten. Der Druck auf ihn wegen dem Lebensstil seiner Schwester führt nach dem Sturz des Diktators Ben Ali und dem islamistischen Dammbruch zum Drama im Haus des Franzosen am Meer.

Der blindwütig gewordene Fanatiker durchschneidet seinem ehemaligen Lehrmeister die Kehle. Wie dieser Abstieg eines aufgeweckten, heiteren, sensiblen Jungen über verschiedene Etappen der Gehirnwäsche bis zum von Al-Qaida ferngesteuerten Mord führen kann, erfährt man in allen Details. Was aber dahinter steht, welche Turbulenzen im Geist des Jugendlichen entstehen, dafür hält der Autor allenfalls ein paar Anekdoten bereit. Die Koranverse und die Hadithe des Propheten hätten den jungen Mann letztlich halt doch tiefer bewegt als die Farbstifte, spekuliert Paul.

Hier herrscht ein idealistisch verbrämtes Hell-Dunkel

Mehr als die Verworrenheit eines solchen Abdriftens hat Trévedic offenkundig die Liebesgeschichte zwischen Paul und der jungen Ahlam interessiert sowie deren Traum von der Freiheit, den die deutsche Fassung faustdick in den Untertitel einschmuggelt. Statt Schatten und Halbschatten, Hadern zwischen Faszination und Hass, herrscht im Roman ein idealistisch verbrämtes Hell-Dunkel. Hier die große Freiheitsliebe, zunächst auf Pauls Bootstouren zusammen mit Ahlams Vater Farhat, später zusammen mit der wunderschönen Ahlam, die am Klavier brilliert wie Paul an der Staffelei, bis beide erschöpft und doch voller Leidenschaft gemeinsam ins Bett sinken. Auf der anderen Seite die finsteren Gesellen von der Religion, die diesen Traum zerschlagen wollen.

Die Entwicklung eines jungen Menschen zum fanatischen Mörder ist in der Literatur schon öfter dargestellt worden. Aus der Feder eines Kenners, der mehrere Islamisten ausgiebig verhört hat, erwartet man besondere Einblicke. Das Ergebnis ist aber nur halbwegs überzeugend. Der Roman liest sich zügig, aber es fehlt seinen gekünstelten Figuren die Eindringlichkeit. Was man an faktischer Anschaulichkeit gewinnt, verliert man sogleich durch literarische Klischees. Durch den gesamten Roman spukt Pauls verquaste Theorie einer Symbiose aller Künste, zusammengelesen aus Rimbaud, Verlaine, Rudolf Steiner und ausgewalzt am Beispiel von Mozarts "Don Giovanni". Unter allen Personen, die er verhört habe, seien fünf oder sechs gewesen, die ihm wirklich unheimlich vorgekommen seien, sagte Trévedic einmal: Sie hätten eine Mauer tief in den Augen gehabt. An keiner Stelle des Buchs ist diese Erfahrung zu spüren.

Marc Trévedic: Ahlam oder Der Traum von Freiheit. Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2016. 288 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 10.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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