Roman:Der Zaun des Clubs

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In ihrem neuen Buch "Das Tiefland" erzählt Jhumpa Lahiri wieder von Ausgewanderten, die von den USA aus nach Indien zurückblicken. Ein großes Epos im Kammerspielton.

Von HANS-PETER KUNISCH

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Kolkata noch Kalkutta hieß, war das heute boomende Tollygunge ein abgelegenes Viertel an einem stillgelegten Arm des Adi Ganga. Aber schon damals gab es dort die Studios von Tollywood, in denen Satyajit Ray und Mrinal Sen später ihre weltberühmten Filme drehten, und es gab den edlen Tollyclub, in dem Golf gespielt wurde. Subash und Udayan interessieren sich dafür. Die beiden Brüder sind in den Jahren um die indische Unabhängigkeit von 1947 geboren. Ihr Schicksal ist an das ihres Landes gekoppelt.

In Jhumpa Lahiris neuem Roman "Das Tiefland" steigen zu Beginn die beiden Söhne eines kleinen Beamten aus der Nachbarschaft über die Mauern des Tollyclubs, um sich mit einem kaputten Schläger auf dem Gelände der Reichen zu versuchen. Die Jungs werden geschnappt. Subash, 15 Monate älter, wird von einem Polizisten verprügelt. Ein Dutzend Jahre später wird Udayan, im Alltag ein unauffälliger Lehrer, vor den Augen seiner Eltern und seiner Frau von Spezialeinheiten erschossen, weil er zur maoistischen Terrororganisation der Naxaliten zu gehören scheint. In seinem Tagebuch finden sich Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails und Bomben - und ein Lageplan des Tollyclubs. Doch Lahiri lässt das mutmaßliche Terrorziel nicht als Ausdruck des Kolonialismus gelten, eher dient es zur Untermauerung der These, dass sich die Begründung von Gewalt im unabhängigen Indien kaum verändert hat: Klassenschranken bleiben wichtig. Die "Naxaliten" entstanden, weil ein Bauernaufstand um das Dorf Naxalbari blutig niedergeschlagen wurde.

Das Schicksal der Brüder in diesem Roman ist an das ihres Landes gekoppelt

Als sein jüngerer Bruder stirbt, ist Subash Ozeanographie-Doktorand in den USA. Er hätte nie gegen den Willen seiner Eltern geheiratet, wie Udayan. Er wartet darauf, dass sie ihm eine Braut vorschlagen. Doch als er nach dem Tod des Bruders in die Heimat zurückkehrt und sieht, wie die Eltern Udayans Witwe behandeln, trifft er eine Entscheidung, die zum Angelpunkt des Romans wird: Er heiratet Gauri, die ein Kind erwartet, von dem Udayan nichts wusste, und nimmt sie mit nach Amerika.

Jhumpa Lahiri, die mit ihrem Erstling "Melancholie der Ankunft" den Pulitzer-Preis gewann, ist 1967 in London geboren, und lebt, nach Jahren in den USA, in Rom. Auch ihr neuer Roman blickt aus der Perspektive der Ausgewanderten zurück nach Indien. Gauri ist eine begabte Philosophie-Studentin, die Udayans revolutionären Ideen nie ganz gefolgt ist. Dem traditionellen Frauenbild entsprechend, agiert sie so schweigsam und abwartend wie Subash. Indem Lahiri die beiden in lapidaren Sätzen zu ihren Hauptprotagonisten macht, schafft sie die Atmosphäre eines Lebens, in dem jeder jeden lange beobachtet, bis er sich in Gespräch oder Tat zu erkennen gibt. So entsteht ein weitausgreifendes Epos in einem Kammerspielton, den Gertraude Krüger sehr schön übertragen hat. Es wird wenig geredet und alltäglich gehandelt.

Dennoch entfalten die knappen Sätze Lahiris, zu kleinen Abschnitten gruppiert, einen eigenen Sog. Man folgt dem langsamen Leben von Subash und Gauri, die sich im Campus seiner Uni auf Rhode Island einzurichten versucht, und ohne dass der politische Hintergrund für Gauris Exilsituation explizit würde, entwickelt sich die bedrückende Stimmung einer indischen "bleiernen Zeit", die Lahiris Protagonisten noch im Exil ähnlich intensiv verfolgt wie die deutsche die Figuren von Christian Petzolds RAF-Drama "Die innere Sicherheit" in Portugal.

Als Udayans Tochter Bela geboren wird, entspannt sich die Lage des Paars kurz. Doch bald wird klar, dass Gauri mit der Situation nicht zurechtkommt. Während Subash eine spontane Liebe zu Bela entwickelt, wird Gauri durch die Tochter so intensiv an den verlorenen Mann erinnert, dass das Kind für sie zum Symbol für ihr schiefes Zusammenleben mit seinem Bruder wird, mit dem sie schläft, ohne ihm näher zu kommen. Beide wirken in sich und ineinander gefangen. Subashs Bedingung, die Tochter zu einem günstigen Zeitpunkt über ihren wahren Vater zu informieren, wird für Gauri, die immer wieder die lähmende Situation zur Explosion bringen will, zur großen Klammer ihrer Existenz. Mit Genauigkeit und Geduld zeichnet Lahiri in die Psychologie ihrer Figuren das Paradox ein, dass trotz der Trägheit der Verhältnisse nichts bleibt, wie es ist.

Gauri beginnt wieder zu studieren, ein alter jüdischer Professor weckt ihr Interesse für klassische deutsche Philosophie und Kritische Theorie. Dass Bela ihr zunehmend lästig wird, schockiert und verärgert Subash. Als er zum ersten Mal mit Bela nach Indien fährt, kommt Gauri nicht mit. Bei der Rückkehr liegt ein Abschiedsbrief auf dem Tisch: Gauri hat eine Dozentur in Kalifornien angenommen, gesteht ihr Versagen als Mutter ein und überlässt Subash die Entscheidung, wann das Kind die Wahrheit erfahren soll.

Nicht immer gelingt Lahiris suggestivem Realismus die Balance zwischen vorsichtig analytischem Erzählen und dem Human-Touch-Kitsch vermeintlich großen Kinos. Gauri bleibt lange schablonenhaft hart, die heranwachsende Bela wirkt oft mehr konzipiert als lebendig. Aber da die Sprache des Romans sehr genau zur zwiespältig-weichen, komplexen Hauptfigur Subash passt, ergibt sich ein stimmiger Gesamteindruck, und man nimmt solche Mängel in Kauf. Im falschesten - oder vielleicht auch einzig richtigen - Moment wächst Subash sogar über sich hinaus und erzählt der erwachsenen Bela von ihrem Vater. So bricht er endlich die Trostlosigkeit seiner Existenz auf - und verhilft dem Roman zu explosiver Dynamik.

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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