Residenztheater:Die Jungfrau ist ein Pumpernickel

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Karlstadt oder Valentin? Bibiana Beglau vereint beide Figuren. (Foto: Konrad Fersterer)

Bernhard Mikeska und sein Team von Raum+Zeit zeigen den Zuschauern in München die Abgründe der Liesl Karlstadt.

Von Egbert Tholl

Die Stimme im Kopfhörer ist ganz nah. Sie stellt Fragen. "Wer bist du?", "Bist du das, was du einmal werden wolltest?", "Wovor hast du Angst?" Dann schickt einen die Stimme, es ist die der Schauspielerin Hanna Scheibe, hinaus aus dem Hotelfoyer, auf die Straße, auf eine Reise ins Innere, das eigene und das der beiden Menschen, von denen Bernhard Mikeska in dieser Produktion des Münchner Residenztheaters erzählen lassen wird.

Das Hotel Kraft steht dort, wo früher der Frankfurter Hof stand, ein bekanntes Volkssängerlokal. Hier lernt im Jahr 1911 der damals schon berühmte Karl Valentin die 18-jährige Elisabeth Wellano kennen, eine flotte Soubrette. Sie verliebt sich in ihn, er in sie, heiratet aber eine andere, die zur Mutter seiner Kinder wird. Aus Wellano aber macht Valentin für Jahrzehnte seine Geliebte und seine Bühnenpartnerin, erfindet einen Namen für sie: Liesl Karlstadt.

Mit der Stimme aus dem Kopfhörer im Ohr spaziert man durch das Klinikviertel in der Münchner Innenstadt, vorbei am Anatomischen Institut, aber so weit sind wir noch nicht, noch leben alle. Man kommt zum Hotel Mariandl, in dessen Café Liesl Karlstadt damals verkehrte, geht die Treppe hoch, geleitet von düsteren Aufseherinnen, hinein ins Zimmer 18, im Bad rauscht die Klospülung, heraus tritt Elisabeth Wellano, nein, die Schauspielerin Pauline Fusban. Sie behandelt den Gast, als wäre der Valentin, träumt von einer Karriere, will keine Dutzendware sein unter den kleinen Sternchen, die damals im umtriebigen Münchner Nachtleben leuchteten. Lieber soll er, also der Gast, sie füttern, dann wäre sie wenigstens fett, also ungewöhnlich. "Mach was aus mir! Gib mir einen Namen!" Betörend nah kommt einem Fusban mit Wellanos Not, der schwere Stoff des altmodischen Kleids raschelt. Die Begegnung dauert kaum länger als zehn Minuten, von denen jede einzelne eine schwere, süße Ewigkeit währt.

Manche Teilnehmer halten die Nähe nicht lange aus, müssen nach draußen

Inzwischen hat Bernhard Mikeska mit Alexandra Althoff und Lothar Kittstein - zusammen sind sie Raum+Zeit - eine Reihe solcher Theaterparcours geschaffen, auf denen der Zuschauer in Eins-zu-eins-Situationen mit Schauspielern geführt wird. Vor fünf Jahren erschuf er am Residenztheater "Eurydice: Noir Désir", einen Abend über die tödliche Nacht des Sängers Bertrand Cantat und der Schauspielerin Marie Trintignant. Und wer das damals erlebt hat, wird es nie vergessen. Auch bei "Playing: Karlstadt" geht es trotz der historischen Orte nicht um die Darstellung einer Biografie; es geht um eine Annäherung an Menschen. Mal wird der Besucher als Karlstadt behandelt, mal als Valentin, wird mit Vorwürfen, Fragen und Sehnsüchten konfrontiert. Die Räume sind eng, die Nähe fabelhaft schön und voller Pein. Manche Zuschauer halten das nicht aus, weinen, müssen raus. Hier kann man nicht im Theatersessel dösen.

Im Keller des Nachbarhauses trifft man auf einen zerschundenen, hustenden Valentin, gespielt von Alfred Kleinheinz. 1940 hat sich Karlstadt von Valentin getrennt und auf eine Alm zurückgezogen. Sieben Jahre später kehrt sie zurück, und der Zuschauer darf sich an ihrer statt den Vorwurf anhören, Valentin im Stich gelassen zu haben. Aber der hat große Pläne, die Kleinheinz hustend, ächzend und flamboyant ausbreitet, "dagegen ist die durchgesägte Jungfrau ein Pumpernickel".

Das Duo Karlstadt-Valentin wird schnell berühmt, nimmt viele Schallplatten auf, dreht Filme. Doch in der gesamten Aufführung wird man keinen einzigen Sketch hören. Karlstadt versucht, sich zu emanzipieren, steht auch ohne Valentin auf der Bühne der Kammerspiele. Derweil stopft er sein und ihr Geld in das desaströse Unternehmen eines Gruselkabinetts, die ohnehin von depressiven Schüben geplagte Karlstadt springt 1935 in die Isar, wird gerettet und verbringt, mit Unterbrechungen, ein dreiviertel Jahr in der Psychiatrischen Klink in München.

Dort lauert Bibiana Beglau im Hörsaal auf den Gast. Die Figur löst sich auf, ein Mischwesen steht vor einem, ein Valentin, aber auch eine Karlstadt, die oft Hosenrollen spielen musste. Beglau ist ein brillanter Überfall, Hanna Scheibe danach in einem Container im Klinikgarten die Conclusio. Sie liegt auf einem Bett, stellt wieder Fragen, jene, die man zu Beginn im Kopfhörer hörte. Doch nun ist sie da, die Frau zu dieser Stimme, warm und nah, durchbricht die Schutzhülle des fabelhaften Sounddesigns in den Kopfhörern.

Danach hat man viel nachzudenken. Über das Künstlerpaar, über das Künstlersein an sich, über sich selbst. Nur 20 Menschen können das an einem Aufführungstag erleben. Deshalb kann man bis Ende Juni in der Tageskasse der Staatstheater einen virtuellen 360-Grad-Rundgang durch den Parcours machen.

© SZ vom 07.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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