Reportagen im Taumel:Unmögliche Situationen

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Aleš Šteger: Logbuch der Gegenwart. Taumeln. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz. Vorwort von Péter Nádas. Haymon Verlag, Wien 2016, 168 Seiten, 19,90 Euro. (Foto: Haymon Verlag)

Der slowenische Dichter Aleš Šteger setzt sich der Welt aus und erkundet die Lage in Ljubljana, Mexico-Stadt, Belgrad sowie Fukushima.

Von Nico Bleutge

Beim Schreiben holt man die Dinge ins Denken. Vor allem aber holt man die Welt an den eigenen Schreibtisch, betrachtet sie von allen Seiten und reichert sie an. Der slowenische Dichter Aleš Šteger kehrt dieses Verhältnis in seinem neuen Buch einfach um. Er geht an die Orte, die ihn gepackt haben. Dort setzt er sich mitten zwischen die Menschen oder auch in ein Schaufenster - und wartet, was passiert.

Sich aussetzen, lautet das eine Stichwort. Und ausgesetzt sein das andere. Zwölf Stunden schauen und notieren, so die Regel, nicht länger, ohne Internet, ohne Bücher, ohne vorher gesammeltes Material, nur auf den Ort vertrauend und auf die Kraft des Zufalls. Auf dass man als Schreibender keine andere Möglichkeit habe, als auf die Umgebung zu reagieren, "instinktiv", wie Šteger es nennt: "Der Zweck dieser Bemühungen ist es, die Sprache in eine derart unmögliche Situation zu bringen, dass sie anfängt, sich selber zu schreiben. Nicht wie das automatische Schreiben (das automatische Schreiben ist ein erstklassiger Streich von Breton), sondern als bedingter Reflex, übersetzt in Sprache."

Die Erkundungen führen nach Ljubljana, Mexico-Stadt, Belgrad und in die Nähe von Fukushima

Was genau das heißen kann, zeigt Šteger in vier Anläufen. Wir sehen ihn etwa im Winter 2012 hinter den Scheiben eines Kaufhauses in Ljubljana sitzen. Dort denkt er über den Raum des Schreibens nach und beobachtet, wie sich draußen eine Massendemonstration entwickelt. Oder wir folgen ihm im Herbst 2014 auf die Straßen von Mexico-Stadt, wo er nahe dem berühmten Engel der Unabhängigkeit die Proteste gegen die vielen Ermordeten festhält. Gekonnt schneidet er seine Wahrnehmungen, selbst geknipste Fotos, O-Töne und eigene Gedanken ineinander, sodass tatsächlich etwas von der "Fackel im Ohr" spürbar wird, die er mehrmals beschwört.

Das vielleicht schönste Stück des Bandes hat Šteger im Sommer 2013 in Fukushima angefertigt. Genauer: In der Bibliothek von Minamisoma, einer kleinen Küstenstadt, etwa 25 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt. Nach dem Erdbeben und der Reaktorkatastrophe von 2011 lag ein Teil von Minamisoma in der Evakuierungszone. Im Wechsel von Landschaftsbeschreibung und Reflexion findet Šteger Sätze, die den Bildern, die in den Medien verbreitet wurden, eine andere Sichtweise entgegenhalten. Er skizziert Hügel, Bagger und Gewächshäuser - und kontrastiert seine Beobachtungen mit den Werten des Geigerzählers. Vor allem aber zeigt er die Menschen mit ihren Ängsten und Hoffnungen, Menschen, die umgesiedelt wurden oder immer noch in Containerdörfern wohnen.

Leider vertraut Šteger nicht in allen Texten auf seinen genauen Blick. Immer wieder wechselt er in die Wir-Perspektive und versucht sich an einer umfassenden Deutung. Das führt zu zahllosen Sätzen über "unser" falsches Handeln oder zu Tiraden über "das System". Diese Passagen sind nicht nur schwere Kost, sie widerspre-chen auch einem von Štegers Grundsätzen: "Moralisieren ist nicht die Antwort."

Hundertmal spannender und auch wirksamer als alle Selbstbezichtigungen sind die Details, die Šteger wahrnimmt. Oder die Geschichten von geflüchteten Menschen, die er in Belgrad in der Nähe eines Busbahnhofs notiert. Die vier Erkundungen sind nur ein Ausschnitt aus einem Projekt, das Aleš Šteger 2012 begonnen hat und das er einige Jahre weiterführen will. Man darf gespannt sein, welche Orte er mit seinem Gespür für Atmosphären noch entdecken wird.

© SZ vom 24.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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