Rechtsruck:Twitter-Rezensionen

Lesezeit: 1 min

(Foto: N/A)

"Im Stahlgezwitscher". Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich unterhalten sich über den Twitter-Account des Philosophen Norbert Bolz. Das Ganze wird zu einer beeindruckenden, ungewöhnlichen Geschichte einer Radikalisierung.

Von Johan Schloemann

Wenn wir jetzt sagen würden, an dem Philosophen, Medientheoretiker und Vortragsredner Norbert Bolz, Professor an der Technischen Universität Berlin, lasse sich eine "Tellkampisierung" beobachten, dann stünden wir nach den Debatten dieser Woche ja gleich wieder im Verdacht, Meinungen verkürzt und polemisch zu paraphrasieren, an einer Gesinnungsdiktatur mitzuwirken oder mindestens die Zugänge zu einem Gesinnungskorridor kontrollieren zu wollen. Also sagen wir das nicht und verweisen lieber ganz nüchtern auf eine sehr aufschlussreiche Analyse der mehr als 1200 Twitter-Nachrichten, die Norbert Bolz seit dem Jahr 2012 unter dem Motto "Die Wahrheit in einem Satz" veröffentlicht hat.

Der Mühe, einen einzigen Twitter-Account einer gründlichen Rezension zu unterziehen - die man sich wohl immer öfter machen muss -, haben sich die beiden Kunsttheoretiker Wolfgang Ullrich und Jörg Scheller unterzogen, online zu lesen in einem Beitrag für die Pop-Zeitschrift. Sie untersuchen bei Bolz exemplarisch "die Geschichte einer Radikalisierung". Denn aus einem durchaus auch mal anregenden liberalkonservativen Essayisten und postheideggerianischen Kulturanalytiker, von dem man einst einiges lernen konnte, auch wenn er immer schon zu Zuspitzung und Aphorismus neigte, ist in der Form isolierter Tweets, die er ohne Debatte absetzt, ein apokalyptischer Zeitgeisthasser geworden, der seine dialektischen Fähigkeiten zunehmend unterdrückt zugunsten von Tweets wie: "Es gibt keine Redefreiheit für die Gegner der Gutmenschen." Seit 2015 wird der Bolz-Kanal immer politischer, ironiefreier, verschwörungstheoretischer, es geht um "Tugendterror", "deutschen Selbsthass" und "regierungstreue Journalisten". Ullrich und Scheller dokumentieren, wie sich ein Intellektueller offenbar gegen besseres Wissen simplifiziert, und erwägen die Gründe dafür - darunter auch "die Sehnsucht danach (...), endlich einmal etwas zu machen, das weh tut und Folgen hat".

© SZ vom 17.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: