Prix Goncourt 2015:Orient im Kopf

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Fast alle Romane, die diesmal in der Endrunde zum Prix Goncourt waren, handeln von Nordafrika oder dem Orient. Gewonnen hat jetzt Mathias Énard mit "Kompass", einer Hommage an die Welt um Damaskus und Palmyra.

Von Joseph Hanimann

Die Goncourt-Preisvergabe stand diesmal im Zeichen Nordafrikas und des Orients. Drei der vier Romane aus der Endrunde erzählen von diesen Weltgegenden, die Jury war kürzlich eigens nach Tunis gereist, um dort die Vorentscheidung zu treffen und die Finalisten im Bardo-Museum bekannt zu geben, dem Ort, an dem im Frühjahr zahlreiche Touristen einem Terroranschlag zum Opfer fielen.

Der Entscheidung für den Roman "Boussole" (Kompass) von Mathias Énard ist literarisch gerechtfertigt und politisch bedeutsam. Wer hätte damals gedacht, dass Syrien sich bald in diesem Zustand befinden würde, sagt nachdenklich eine Figur im Roman. Das bei Actes Sud erschienene Buch ist aber kein schnell gebasteltes Werk im Aufwind der Aktualität, sondern eine lang gereifte Huldigung an die vielfältigen Beziehungen zwischen Morgen- und Abendland. Ein kranker Wiener Musikwissenschaftler namens Franz Ritter sitzt in seiner Wohnung und erinnert sich im Halbwachzustand halb melancholisch, halb sarkastisch an seine vergangenen Reisen und Begegnungen in Istanbul, Aleppo, Damaskus, Palmyra, Teheran sowie an die Orientalistin Sarah, die er aus der Ferne liebte. Der 1972 geborene Énard, in jungen Jahren selber Orientalist und mittlerweile Autor von einem halben Dutzend sehr unterschiedlicher Romane, hat mit viel Können und Gelehrsamkeit eigene Reiseerfahrungen verarbeitet. Auf Deutsch erscheint der Roman unter dem Titel "Kompass" im August 2016 bei Hanser Berlin.

Énards Roman "Kompass" ist eine Hommage an die Welt um Aleppo, Damaskus und Palmyra

Obwohl schon im ersten Durchgang mit knapper Mehrheit getroffen, war die Wahl in der Goncourt-Jury diesmal nicht einfach. Der als Kandidat auf allen Preislisten vertretene Boualem Sansal war mit seiner George-Orwell-Variation "2084" (SZ vom 16. September) unter Ach und Krach aus der Vorauswahl des Goncourt herausgefallen. Es ist, als hätten die Juroren die Sache nun schnell hinter sich bringen wollen. Zum Trost bekam Sansal in der vergangenen Woche ex aequo mit dem Franko-Tunesier Hédi Kaddour, der mit "Les Prépondérants" (Die Maßgeblichen) bis zuletzt in der Goncourt-Auswahl blieb, den großen Romanpreis der Académie Française. Der gleichzeitig mit dem Goncourt vergebene Renaudot-Preis ging an Delphine de Vigan für "D'après une histoire vraie" (Nach einer wahren Geschichte), ein Spiel zweier Frauen zwischen literarischer und psychologischer Fiktion.

© SZ vom 04.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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