Premiere in Berlin:Normalfall Utopie

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Glücksfall: René Jacobs bringt in Berlin Georg Philipp Telemanns ironisch visionäre Oper "Emma und Eginhard" auf die Bühne.

Von Reinhard J. Brembeck

Kaiser Karl der Große ist ein Weichei, das wissen alle, auch er selbst. Nach 33 Jahren Sachsenkrieg ist er endlich wieder in seinem geliebten Aachen, wo er zusammen mit seinem Hofnarren im NSA-Stil das Zivilleben mit seinen Liebe- und Eifersüchteleien dauerbeobachtet. Als aber seine Tochter Emma mit seinem Premier Eginhard anbandelt und ihn zuletzt sogar huckepack durch den Schnee schleppt, um diese Liaison zu vertuschen, da sieht Weichei Karl rot - und die Chance gekommen, endlich einmal den harten Mann herauszukehren. Was er natürlich nicht durchhält.

In Hamburg gab es einst, man vergisst es gern, das erste öffentliche Opernhaus in deutschsprachigen Landen. Es war ein, wie sollte es in Hamburg auch anders ein, kommerzielles Unternehmen fürs Bürgertum. Zu dessen 50. Jubiläum 1728 schrieb dessen damaliger Chef Georg Philipp Telemann die Festoper "Emma und Eginhart" als eine ironisch vergnügliche und zudem giftig adelskritische Sause: Hochadelstochter vögelt Bürgersohn. Der Skandal hält sich in Grenzen, doch das Stück wird wie alle deutschsprachigen Opern vor Mozarts "Entführung" von den Bühnen gemieden. Seit ein paar Jahren aber wird das Genie Telemann, das allzu gern als vielschreibendes Leichtgewicht abqualifiziert wird, wieder entdeckt. Vor allem seine Opern überraschen, beweisen sie Telemann doch als einen großen Musikdramatiker, der alle denkbaren Stile zusammenschüttet und sie dann mit kantigem Griffel zu einem ungemein bühnenwirksamen und unverkennbaren Personalstil verbindet.

Slapstick, Ironie, Schneefall: Telemann in Berlin. (Foto: Monika Rittershaus)

Telemanns wichtigster Mentor heute ist der immer neugierige Dirigent René Jacobs. Der hat mit der "Brockes-Passion" dessen geistliches Hauptwerk auf CD herausgebracht und an der Berliner Staatsoper schon Telemanns "Orpheus" und "Sokrates" auf die Bühne gestellt. Jetzt ist Jacobs bei der Oper "Emma und Eginhard" angekommen. Zusammen mit der hinreißend aufspielenden Akademie für Alte Musik Berlin und der ganz auf Jacobs Wellenlänge agierenden Regisseurin Eva-Maria Höckmayr hat er das Riesenstück nicht nur auf vergnügliche drei Stunden eingedampft, sondern als großes Welttheater in ein die Zeiten klitterndes Herrscherpalais verpflanzt, das Nina von Essen auf die dauerbeschäftigte Drehbühne gestellt hat.

Das vergnügte Publikum im Schillertheater feiert diese personalintesive Ausgrabung ausgiebig und gut gelaunt. Der Grund dafür dürfte zuerst in der Musik liegen. Telemann fängt den durchgehend ironischen Tonfall des kongenialen Librettos von Christoph Gottlieb Wend meist in Kurznummern ein, die an "Dreigroschenoper" und Musical erinnern. Immer wieder und aufs Ende hin zunehmend häufiger schiebt Telemann Ausreißer ins Höchsttragische ein. In diesen tragischen Gefühlsentladungen, wenn die Protagonisten dem Tod begegnen, wachsen die Arien zu großen Organismen an, die abwechslungsreich orchestriert und von vielfältigen Brüchen bestimmt sind. Diese Nummern haben so gar nichts Barockes an sich, sondern rühren empfindsam frühromantisch an. Auch ähnelt keine Arie der anderen, obwohl die gängige, dreiteilig barocke Form oft zu hören ist. Ob Slapstick, existenzielle Katastrophe oder Liebesgetändel, ob Heroik, Sehnsucht oder die ausnehmend witzig als Duette gesetzten Briefleseszenen: Telemann findet für jede Stimmung einen eigenen Tonfall und konstruiert daraus ein verführerisch schillerndes Panoptikum.

Die Emma der Robin Johannsen ist eine ausnehmend selbstbewusste Frau, die ihre Liebesbedürfnisse ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen befriedigt. Dieses Verhalten wäre nicht nur für eine mittelalterliche Kaisers-, sondern auch für eine Bürgerstochter rotzfrech. Aber Telemann und Librettist Wend pfeifen auf Konventionen. "Adel sonder Tugend-Zier Kommt mir wie ein Storchennest für", darf Johannes Chums präpotent weltweiser Hofnarr singen, um hinzuzufügen: "Übrigens hingegen tauget Gar zu nichts das ganze Tier." Ja, das ist politisches Kabarett, aber das hat hier genauso zwanglos Platz wie die von Jan Martiník mit blutrünstiger Direktheit geschmetterte Soldatennummer "Köpfe spalten, Glieder trennen, Morden, plündern, sengen, brennen, Ist der Soldaten Element."

Doch dem Slapstick begegnet immer wieder das große romantische Liebesgefühl, dem hier die Steifheit des Barock genauso fehlt wie dessen eindimensionale Affektdramaturgie. Die innerlich lodernde Hildegard der Sylvia Schwartz ist es deshalb ganz pragmatisch zufrieden, wenn sich der flattrige Heswin der Stephanie Atanasov zuletzt dann doch für sie als zweite Wahl entscheidet. Vor allem aber prägt das neue bürgerliche Lebensgefühl den Eginhard. Den zeigt Nikolay Borchev als Emporkömmling: agil, karrieregeil, staatsmännisch. Doch die Liebe kostet ihn beinahe Karriere und Kopf. Gyula Orendts Karl der Große hat den erotischen Umtrieben dieses selbstbewussten Zivilisten mit zunehmend großen Augen zugeschaut, und jetzt kehrt er mit Schmetterstimme den Tyrannen heraus.

Pietro Metastasio verfasste seine vor allem durch Mozarts Vertonung bekannte "Clemenza di Tito" ein paar Jahre nach Telemanns Oper, die das gleiche Thema verhandelt: Der zutiefst gütige Herrscher, der Gnade vor Recht ergehen lässt, hat nicht nur das 18. Jahrhundert existenziell fasziniert. Deshalb drückt sich auf der Bühne jener Zeit die Sehnsucht nach einer ganz anders gearteten Politikerkaste aus, als sie in der Wirklichkeit zu finden ist. Doch während der Sieg der Güte bei Metastasio in große antikische Gefühle gepackt wird, kommt sie bei Telemann als Normalfall in einer utopischen Gesellschaft daher, in der sich das Individuum schon längst aus gesellschaftlichen Zwängen befreit hat. Und Telemann ist für René Jacobs der ironische Visionär dieses freien Menschen.

© SZ vom 29.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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