Preisverleihung:Gesprengte Ketten

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Grammys 2016: Taylor Swift stichelt gegen Kanye West, und Kendrick Lamar präsentiert den USA schwarze Selbstermächtigung zur besten Sendezeit.

Von Julian Dörr, Jan Kedves, Reinhard Brembeck

Kanye West hat an diesem Grammy-Abend in Los Angeles die Bühne übrigens ausnahmsweise nicht gestürmt, er hat auch niemanden beleidigt und keinem seine Auszeichnung aberkannt. Soweit sich das ermittel ließ, war er nicht einmal anwesend. Sonst hätte er wohl auf Taylor Swifts mittelscharfen Schuss in seine Richtung reagiert. In ihrer Dankesrede zum Grammy für das beste Album des Jahres ermutigte Swift alle jungen Frauen dazu, selbstbewusst ihren Weg zu gehen: "Es wird immer Menschen geben, die deine Erfolge für sich beanspruchen wollen." Eine Reaktion auf die Zeile "I made that bitch famous" in Wests neuem Song "Famous"? Ach was, nicht einmal ein kleines Skandälchen, sondern nur wohlinszeniertes Klappern des großen Pop-Getriebes.

Dass diese Industrie allerdings auch aus ganz normalen Menschen besteht, zeigte Ed Sheeran. Für "Thinking Out Loud" erhielt der Brite die Grammys für den Song des Jahres und die beste Solo-Performance im Pop. Endlich. Seine Eltern seien schon viermal für die Verleihung eingeflogen, erzählte Sheeran. Viermal sei er leer ausgegangen und jedes Mal hätten sie ihn hinterher auf's nächste Mal vertröstet. Und Taylor Swift freute sich für ihn, als hätte sie selbst gerade gewonnen. Nicht zuletzt durch seine Freundschaft wissen wir, dass der Superstar Taylor Swift doch auch ein Mensch ist, und nicht nur Amazone. Zu denen zählt die Sängerin Meghan Trainor, die an diesem Abend als beste Newcomerin ausgezeichnet wird, sicherlich nicht. "I'm all about that bass", sprechsingt die 22-Jährige in ihrem bekanntesten Song im Hinblick auf ihren Hintern. In Zeiten des Pos ist auch das schon eine Selbstermächtigungsgeste. Auf der Bühne der Grammy-Awards ist es dann aber vorbei mit der Selbstsicherheit. Im Heulkrampf zittert Trainor gerade noch ein Danke an Mum und Dad heraus.

Natürlich sind die Grammys auch immer ein Abend der inszenierten großen Gefühle. Zumal die Musikwelt in den vergangenen Wochen und Monaten echte Helden verloren hat, die an diesem Abend betrauert werden. Ein besonderer Höhepunkt: Lady Gagas Verneigung vor David Bowie. Zu sehen mit welcher Leidenschaft sich die künstlichste Kunstfigur der Gegenwart da in den größten Gestaltwandler, den der Pop je hatte, hineinfühlt und groovt und tanzt, war ein echtes Spektakel.

Der Star des Abends war allerdings Kendrick Lamar, der insgesamt fünf Auszeichnungen gewann, darunter den Grammy für das beste Rap-Album. Zu seinem großen Auftritt kommt er in Ketten: Mit schweren Schritten und blauem Auge schleppt er sich zum Bühnenrand, in der Gefängniszelle neben ihm stöhnt ein Saxophon. Dann stürzt er sich in dystopische Tribal-Versionen seiner Hits "The Blacker The Berry" und "Alright". Am Ende steht "Compton" in schwarzen Buchstaben im großen, weißen Umriss von Afrika. Ein hektischer, wütender, manischer, überwältigender Auftritt. Diese Songs sind als Mainstream-Pop eigentlich zu kompliziert - und treffen doch genau in dessen Herz: Das ist die Musik zur Zeit. Zum zweiten Mal in einer Woche erlebten die USA damit schwarzen Protest und schwarze Selbstermächtigung zur besten Sendezeit.

Lady Gaga mit Disco-Legende Nile Rodgers (li.) während ihrer Bowie-Hommage bei den 58. Grammys am Montagabend in Los Angeles. (Foto: Mario Anzuoni/Reuters)

Aber die Grammys drehen sich natürlich nicht nur um Popmusik. In der Kategorie "Best Large Jazz Ensemble Album" war das gemeinsame Album "Köln" des amerikanischen Jazz-Posaunisten Marshall Gilkes und der WDR Big Band nominiert, ausgezeichnet wurde schließlich jedoch das Maria Schneider Orchestra mit dem Album "The Thompson Fields". Auf diesem von der Kritik hochgelobten Werk spielt auch der New Yorker Jazz-Saxofonist Donny McCaslin mit, der zuletzt einem breiteren Publikum bekannt wurde, weil er eng mit David Bowie an dessen Abschiedsalbum "Blackstar" zusammenarbeitete. McCaslin war zudem in der Kategorie "Best Improvised Jazz Solo" nominiert, für ein Solo auf "The Thompson Fields". Den Preis bekam jedoch der Jazz-Bassist Christian McBride, für ein Solo auf seinem Album "Live at the Vanguard Village".

Für hiesige Klassikfreunde, die ihre Musik ja immer für die wichtigste auf dieser Welt halten, ist ein Blick in die Grammy-Gewinnerliste durchaus heilsam. Da wurden zwar Grammys in 83 verschiedenen Kategorien vergeben, doch nur zehn davon entfielen auf die Klassik. Das ernüchtert. Ansonsten halten sich die Überraschungen in Grenzen. Dass der Dirigent Andris Nelsons für die Zehnte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch oder sein Kollege Seji Ozawa für Maurice Ravels Kinderoper "L'Enfant et les sortilèges" ausgezeichnet wurden, verwundert wenig. Auch ansonsten dominieren Stücke, die schon zu oft aufgenommen wurden: Rachmaninow, Dutilleux, sowie ein Liederabend mit Joyce DiDonato. Absolut lohnende Neuentdeckungen für Europäer dürften aber das aufgedrehte Album "Filament" der Kammermusiktruppe Eighth Blackbird sowie der in der stark rhythmisch orientierten Nachfolge Igor Strawinskys stehende Komponist Stephen Paulus (1949-2014) sein, der gleich mit zwei Grammies bedacht wurde.

© SZ vom 17.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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