Porträt:Im Erdreich der Sprache

Lesezeit: 7 min

Karen Krieger vor dem schönsten Bücherschrank in Pankow. Hier übersetzt sie zurzeit den vierten Band der neapolitanischen Saga. (Foto: Regina Schmeken)

"Da trägt der Text sich selbst weiter, die Sätze stupsen einander an": Ein Besuch bei Karin Krieger, der Übersetzerin der Romane von Elena Ferrante, deren Pensum im Schnitt bei 100 Seiten pro Monat liegt.

Von Alex Rühle

Das Treffen konnte lange nicht stattfinden. Kein Wunder. Vier Bände. 2200 Seiten. Und da der deutsche Markt das Phänomen Ferrante lange verschlafen hat, muss es jetzt enorm schnell gehen. Karins Kriegers Pensum liegt bei 100 Seiten im Monat, da ist kaum Zeit für ein Werkstattgespräch. Irgendwann muss aber auch die fleißigste Kärrnerin mal Pause machen. Wenigstens zwei Wochen. Zwischen Band drei und vier. Neuronenlüften. Auftauchen aus dem Bergwerk. Wobei sie selbst am Telefon vom Maulwurfshügel spricht. Bergwerk klingt ihr zu martialisch. "Da sprengen sich Muskelprotze den Weg frei. Ich komme mir eher vor wie ein Maulwurf, der sich durch weiche Erde wühlt." Auch das ist Arbeit unter Tage. Alleine unterwegs im dunklen Textgebirge.

In einer Kladde hortet sie Wörter wie Tropenkuckuck, Graubürzelwasserläufer

Und dann kommt man in dieses Zimmer, hoch über Berlin. Draußen sanft rauschende Baumwipfel. Silbergrünes Licht fließt durch riesige Fenster auf den Holzboden. Und auf den schönsten Bücherschrank von Pankow. Alles hinter Glas, der einzige Luxus, den sich Karin Krieger je geleistet hat, "nach 25 Jahren Übersetzerarbeit dachte ich, ich muss meine Liebsten jetzt mal schützen. Gute Bücher muss man kuscheln." Klingt etwas übertrieben, in dieser zärtlichen Haptik, aber sie wird im Verlauf des Nachmittags tatsächlich immer wieder zum Glasschrank gehen, ein Buch herausnehmen und es nebenbei, wir reden über Rhythmus, Kontext oder Neapel, streicheln wie einen Handschmeichler.

Dem Schrank gegenüber ihr Schreibtisch. Ein Computer. Ein offenes, ziegeldickes Lexikon, der einsprachige "Devoto-Oli", ihr täglich Buch. Daneben der Sansoni, ein deutsch-italienisches Wörterbuch, das mit jeder neuen Übersetzungsarbeit wertvoller wird: Sie hat ihn über 30 Jahre hinweg handschriftlich ergänzt, Synonyme und Nebenbedeutungen gesammelt. "Wenn das Haus mal abbrennt und alle Bewohner ihre Geburtsurkunden und den Pass zusammenraffen, werd' ich dieses Buch mitnehmen." Nicht zu vergessen die eigene Kladde, in der sie Wörter hortet, Sprachschätze, seltene Formulierungen: "sonderbar auffälliger Mensch: Tropenkuckuck". Oder eine Sammlung skurriler Vogelnamen: "Mohrenklaffschnabel. Graubürzelwasserläufer". Wie dieser Vogel aussieht? "Keine Ahnung", sagt sie, fast verzückt. "Aber dieser Klang!"

Der Klang. Gleich mal ein Grundproblem. Das Italienische klingt mit seinen vielen Vokalen so geschmeidig und singend. Wie rettet man das ins Deutsche rüber? "Das geht schon bei simplen Sätzen los: ,Dormii profondamente' Wörtlich: ,Ich schlief tief'." Wenn Krieger die beiden Sätze so hintereinander sagt, klingt es, als habe der italienische Satz in einem Himmelbett genächtigt, während die drei engen "i"-Laute der deutschen Übersetzung eher an ein quietschend schmales Klappbett erinnern. "Geht rhythmisch gar nicht."

Rhythmus. Zweites Riesenthema. Gerade mal fünf Minuten da, schon ist man tief im Maulwurfshügel. Ganz wichtig: Man muss sich jeden Satz vorlesen. Laut. "Ferrante zieht einen wie eine Lokomotive durch ihren Text, das muss man im Deutschen nachbilden, im Großen wie im Kleinen." Krieger blättert eine Stelle aus dem ersten Band auf, hier, Seite 44. "Lila era troppo per chiunque." Wörtlich: Lila war zu viel für jeden. "Kann man machen", sagt Krieger. Sie spricht den deutschen Satz so, dass das Wort "jeden" so schwer am Satzende hängt, als würde es gleich auf den Boden plumpsen. "Aber wenn Sie es umstellen, klingt es viel leichter. ,Lila war für jeden zu viel.' Das wirkt sich auf den nächsten Satz aus: ,Sie ließ keinerlei Raum für Wohlwollen.' Auch plump. Wenn ich daraus mache: ,Sie ließ keinerlei Raum für Sympathie.', schwingt das schön: zu víel. Sympathíe." Sie dirigiert die beiden Wörter wie Musik, "da trägt der Text sich selbst weiter, die Sätze stupsen einander an. Aber ich mach erst mal einen Kaffee."

Die Kaffeepause kann man für all jene nutzen, die die letzten drei Jahre unter einem Maulwurfshügel oder in einem Bergwerk verbracht haben. Alle anderen haben den Hype um Elena Ferrante und ihre Romantetralogie eh mitbekommen, dieses Drama eines doppelten Verschwindens: Im Buch ist es Lila, die sich freiwillig und spurlos aus ihrem eigenen Leben davonmacht. Ihre Lebensfreundin Elena macht sich auf die Suche nach ihr und der gemeinsamen Vergangenheit. Warum hat sie selbst es aufs Gymnasium geschafft und einen Weg aus der Armut gefunden? Warum ist Lila, die begabtere der beiden, hiergeblieben? Und wo steckt sie jetzt?

All diese Fragen verschwanden bei der rasant wachsenden Lesergemeinde irgendwann hinter der Frage, wer den Text überhaupt erzählt. Elena Ferrante ist ein Pseudonym für jemanden, der es in Zeiten totaler Selbstvermarktung geschafft hat, 25 Jahre lang anonym zu bleiben. Weshalb irgendwann weltweit gerätselt wurde, wer sich dahinter verstecken mag. Wer es geschafft hat, anhand dieser zwei Frauenschicksale, die man als Kinder 1950 kennenlernt und dann bis ins Jahr 2010 begleitet, ein riesiges Panorama aufzufalten, Nachkriegsitalien, das Erstarken der Camorra, Familientragödien, Ehen und Scheidungskriege, der Kampf der Frauen um mehr Freiheit, die vergebliche Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Wer hat Italien nur dieses Epos über die eigene Gegenwart geschenkt? Ferrante erklärte in schriftlichen Interviews, Ruhm sei ihr zuwider, die Fixierung auf den Autor schade nur dessen Büchern.

Krieger findet das so sympathisch wie verständlich. Umso unsympathischer ist ihr der Journalist, der 2016 enthüllte, hinter Ferrante steckten die römische Übersetzerin Anita Raja und ihr Ehemann, der Autor Domenico Starnone. "Ich finde es verletzend, dass ihr Wunsch nach Anonymität nicht respektiert wurde. An unserem Verhältnis hat sich dadurch nichts geändert, ich schreib ihr weiterhin zwei mal pro Buch eine Sammelmail voller Fragen."

Um in die süditalienischen Fünfzigerjahre einzutauchen, hat Krieger sich noch mal Vittorio de Sicas Filme angesehen, als Alltagsenzyklopädie, "wie waren die Kopftücher geschnitten, welche Schuhe haben sie getragen, die Auslagen der Geschäfte", diese Sandkörnchenunendlichkeit des Lebens, wie gehen die Leute, haben sie einfach nur Haare auf dem Kopf oder können sie sich schon Frisuren leisten.

Nichts ist sicher in Neapel, der Stadt, die am Rande eines Vulkans steht

Und sie ist nach Neapel geflogen. Um den ärmlichen Rione zu durchwandern, aus dem Lila und Elena stammen, das Viertel, das heute so kriminell und runtergewohnt ist, dass die Taxifahrer sich weigerten, sie dort überhaupt hinzufahren. Zum anderen aber, um das Grundgefühl dieser Stadt am eigenen Leib zu erfahren: "Dass dort nichts sicher ist. Eine Stadt, die am Rand eines Vulkans steht. Die Phlegräischen Felder, dieses weißgleißende Gebiet mit qualmenden Fumarolen, und plötzlich blubbert es unter deinen Füßen." Dieses Gefühl einer gefährlichen Instabilität durchzieht die ganze Saga, nichts ist, wie es scheint, Beziehungen kippen plötzlich, Und am Ende löst sich Lila im Nichts auf.

Die richtige Arbeit aber findet hier statt, in diesem Zimmer. Tag für Tag, Seite für Seite. Eigentlich seit 45 Jahren: Sie ist gebürtige Berlinerin. Ostberlinerin. Russisch als Pflichtfach, Englisch als sprachlicher Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt, von früh an, Texte der Beatles und de r Stones wurden getrunken wie Lebenswasser. Mit 13 fiel ihr "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" in die Hände. In einer englisch-polnischen Ausgabe. "Ich wollte das für mich haben. Ganz und gar. Ich wollte es auffressen, mir einverleiben." Sie dachte, sie übersetzt das an einem Nachmittag. "Aber dann saß ich zwei Stunden an den ersten beiden Sätzen." Sie wurde dabei so ruhig, als würde sie auf den Grund der Sprache sinken. Nach dem Nachmittag war's um sie geschehen, sie wanderte aus dem beengten DDR-Alltag in die Sprache aus. Englisch durfte sie dann nicht studieren, ihr wurden Italienisch und Französisch zugewiesen. Was für alle Leser von Claudio Magris, Ugo Riccarelli oder Vercors ein großes Glück ist; 2011 erhielt sie den Hieronymusring, die höchste Übersetzerauszeichnung.

Seite für Seite. Wendung für Wendung. Die Mutter der Erzählerin Elena hinkt. Aber wie übersetzt man "La gamba offesa"? Das kranke, beleidigte, gekränkte Bein? Hinkt alles. Krieger fiel dann ihre eigene Großmutter ein, die in den Sechzigerjahren über ihre "schlimme Hand" klagte. Jetzt humpelt Elenas Mutter mit ihrem "schlimmen Bein" durch den Text und das passt zum italienischen Original wie ein Maßhandschuh über eine Hand.

Manchmal kommen solche erlösenden Einfälle im Schlaf. Oder im Kino, bei einem der Stummfilme, die Krieger so liebt. Allein schon, weil sie tagsüber genug mit der Sprache zu tun hat. Gleichzeitig ist man da mit anderem beschäftigt und stört doch das eigene Sprachzentrum nicht an der untergründigen Arbeit. Plötzlich, am äußersten Wahrnehmungsrand, huscht dann ein Wort durchs neuronale Unterholz, das muss man erwischen. Wie bei diesem Satz aus Margaret Mazzantinis "Venuto al mondo", wo eine Frau sagt: "Lo amo' dico. Dico ,amo' e penso a un amo di pesca." Ich sage, ich liebe ihn und denke an einen Angelhaken. Wie kann man die Doppelbedeutung von amo (liebe/Angelhaken) ins Deutsche herüberretten? Das zog an ihr, wochenlang, wie der Fisch am Haken, und dann, im Kino, fiel es ihr ein: "'Ich hänge sehr an ihm, muss aber an eine Angel denken.' Da war ich selig."

Genau darum geht es. Der Sinn eines Satzes zappelt in einem, und dann muss man so lange nachdenken, zuwarten, lauern, bis man ihn richtig zu fassen bekommt. Was natürlich mühsam ist. Auf die Frage, ob es nicht auch beglückend ist, antwortet sie, richtig schön sei "nur der Feinschliff". Wenn alles in flüssiges Deutsch umgeschmolzen, die erste Übersetzung durch ist. "Da merke ich dann, wie kompakt der Text ist. Wie der Maler, der erstmals vom Bild zurücktritt. Aber vorher - puh."

Für Krieger ist das neu, vier Bücher am Stück von ein und derselben Autorin. "Bisher hatte ich selbst bei Großprojekten immer was anderes dazwischengeschaltet, schon um meine eigene Vielsprachigkeit zu erhalten." Jetzt merkt sie, dass Ferrantes Rhythmus ihre eigene Sprache formt. Ferrante setzt oft Kommas, wo normalerweise Punkte kämen, auch das erzeugt diesen Lesesog, die Sätze gleiten ineinander, der ganze Text fängt an zu fließen, "das mach' ich plötzlich auch in meinen Mails".

Was den Vorteil hat, dass man vor und nach dem Treffen sehr schöne Mails von ihr bekommt. Bekam. Jetzt ist wieder Stille. Sie ist wieder abgetaucht ins Erdreich. Der vierte Band. 1976 bis 2010. Der letzte Satz lautet: "Ora che Lila si è fatta vedere così nitidamente, devo rassegnarmi a non vederla più." Ungefähr: Jetzt wo Lila so klar sichtbar wurde, muss ich es akzeptieren, sie nie mehr zu sehen. Man darf jetzt schon gespannt sein, wie Karin Krieger das ins Deutsche rüberholt. Der dritte Band jedenfalls erscheint am 28. August.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: