Porträt:Die endlose Tastatur

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Ein Besuch bei der Comiczeichnerin und Autorin Zeina Abirached und ihrem Leben im "Dazwischen".

Von Alex Rühle

Das erste, was an ihr auffällt: Sie hat ja wirklich diese irrsinnigen Locken. In ihren drei autobiografischen Graphic Novels zeichnet Zeina Abirached sich selbst stets mit einem Haufen wilder Spiralkreise auf dem Kopf. Und dann sitzt sie da im Pariser Jardin du Luxembourg im Schattengesprenkel der Kastanien und das Gekringel, das ihr junges Gesicht umrahmt, ist tatsächlich beeindruckend dicht. Das zweite, was auffällt, ist ihr Humor. Nebenan, in einem runden Pavillon, übt ein kleines Schulorchester irgendwelche Märsche. Abirached lauscht den Melodieschlieren und Klangclustern, die durch die nachmittägliche Hitze wabern und sagt dann: "Beeindruckend. Die kriegen nicht nur die Vierteltöne meines Urgroßvaters hin, sondern sogar noch die Achteltöne dazwischen."

Was man nur verstehen kann, wenn man "Piano Oriental" gelesen hat, Zeina Abiracheds letzte Graphic Novel, in deren Mittelpunkt besagter Urgroßvater steht: Abdallah Kamanja war Angestellter am Güterbahnhof in Beirut, hat nebenher angefangen, als Klavierstimmer zu arbeiten, liebte die Musik - und hatte einen Traum: Ein Klavier so umzubauen, dass es die Vierteltöne der arabischen Musik spielen kann. Das Piano Oriental, das mühelos zwischen der wohltemperierten Stimmung und dem orientalischen Tonleitersystem, zwischen Mozart-Sonaten und libanesischen Liebesseufzern hin- und herwechseln kann. Jahrelang hat er in Beirut seine Bürostunden geschwänzt, um an diesem vermaledeiten Klavier herumzukonstruieren, irgendwann hat es geklappt, und er machte sich auf nach Wien, ins Epizentrum der klassischen Musik, eine Art Weltreise, mit dem Dampfer und dem Zug.

Sie ist 36 Jahre alt und lebt "dazwischen": zwischen Paris und Beirut, West und Ost

Zeina Abirached ist 36 Jahre alt und lebt, wie sie selbst sagt, "dazwischen". Zwischen Paris und Beirut. Zwischen Französisch und Arabisch, West und Ost. Dazwischen, das kann heißen, dass man durch den Spalt der Differenz ins Nichts fällt und keinen eigenen Ort hat. Es kann aber auch bedeuten, dass man in zwei Kulturen zu Hause ist, die einander befruchten.

"Piano Oriental" ist auch deshalb so herausragend, weil Abirached die Geschichte ihres Urgroßvaters kunstvoll mit ihrer eigenen Biografie verwebt. Da ist das Thema des Wechsels von der eigen Kultur in die andere, die verschiedenen Tonlagen, der Umzug von Beirut nach Paris, die zwei Sprachen ihres Lebens: Das Arabisch ihrer Kindheit und ihrer Familie, das Französisch, das schon von früher Kindheit an Sehnsuchtssprache war und in dem sie heute zu Hause ist. Sprache und Musik werden hier immer wieder ineinander verwoben, Noten und Buchstaben, Tonleitern und Sätze.

Mit seinen schwarz-weißen Tasten und seiner rechteckigen Struktur passt das Klavier hervorragend zu Abiracheds Zeichenstil. Sie arbeitet immer schon in Schwarz und Weiß. Die sogenannten Panels, die Kästchen der einzelnen Zeichnungen also, können so schmal und hoch werden wie einzelne Tasten und so breit wie ein ganzes Klavier. In der Mitte des Bandes gibt es zwei Seiten zum Ausklappen, die endlose Tastatur des Klaviers schlägt in Wien Wellen der Begeisterung, die Gebrüder Hofmann sind verzückt über die Erfindung und versprechen, das Piano Oriental zu bauen, wenn Abdallah 120 Käufer findet. Das hat leider nicht geklappt, der Urgroßvater starb, Libanon versank im Krieg, das Klavier steht heute irgendwo in Beirut. "Immerhin", sagt Abirached, "ein weltweites Unikat."

Sie selbst wurde 1981 mitten im Libanonkrieg geboren. Das "mitten" stimmt zeitlich wie geografisch, die Familie lebte direkt an einer der Demarkationslinien, Abirached hat darüber ihre ersten beiden Comics gemalt: "Ich erinnere mich" erinnert an eine Sammlung von Polaroids, Kindheitsmomente im Krieg. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich über Flüchtlinge wie über Wesen von einem anderen Stern beugt, Abiracheds Kindheit im Beirut der Achtzigerjahre ist geprägt von Kitkat, Staus, selbstaufgenommenen Kassetten und der Angst vorm Friseur, der ihre schönen Locken verhunzt.

"Das Spiel der Schwalben" ist noch beeindruckender, spielt es doch an einem einzigen Abend, an einem einzigen Ort, dem winzigen, fensterlosen Raum, in dem sie damals, wir sind im Jahr 1984, vor Beschuss und Granatsplittern sicher waren und in dem auch die anderen Mieter des Hauses Zuflucht fanden, wenn besonders heftig gekämpft wurde. Sie fängt in diesem einen dunklen Raum das ganze Leben ein, die Geschichten, Träume und Ängste der Bewohner, das Zittern, ob die Eltern es rechtzeitig vor dem nächsten Gefecht nach Hause schaffen, die Hoffnung, nach Kanada ausreisen zu können, die vermischt ist mit der Trauer, alles hinter sich lassen zu müssen und das alles durch Kinderaugen, die ja doch vor allem den Moment sehen.

In beiden Bänden wird die Gewalt nie gezeigt und ist doch immer da wie das tiefe Hintergrundschwarz der Bilder, in Einschusslöchern und Barrikaden, in wummernden Geräuschen und in der Angst, die wie ein Gas selbst in die hintersten Ritzen des fensterlosen Raumes dringt. "Die Gewalt", sagt sie, "ist ohnehin überall sichtbar, mach den Fernseher an, jeden Abend Bilder wie eine Splitterbombe. Ich will lieber die Folgern der Gewalt zeigen."

Schon in diesen beiden Bänden spielte sie sehr kunstvoll mit der Seitenaufteilung und der Technik der Wiederholung. In "Piano Oriental" treibt sie beides noch weiter voran: Die Verzahnung ihrer eigenen Geschichte mit dem Geschehen rund um ihren Urgroßvater wechselt durch schwarze und weiße Seiten ab. Von oben oder vorne betrachtet erinnern die Seiten des Buches mit ihren schwarz-weißen Kapiteln an eine Klaviertastatur. Da es um ein Klavier und den Klang der Sprache geht, ist dies auch ein Buch über Geräusche und Klänge. Gummischuhsohlen schmatzen, Vögel singen, vergehende Zeit wird durch das klappernde Geräusch von Stricknadeln gezeichnet, die wie kleine Zeittropfen eine ganze Doppelseite ausfüllen und später dann den Hintergrund des eigenen Sprachteppichs bilden.

Abirached zeichnet am Rechner, was das serielle Spiel vereinfacht, immer wieder wuchern kleine Motive zu clusterartigen Mustern heran, die Noten, ein Paar tanzender Schuhe und natürlich immer und immer wieder die schwarz-weiße Klaviatur, die plötzlich in einem Gebiss, in einer Hotelwerbung oder in Vorhängen auftaucht.

Und "Piano Oriental" ist auch ein Buch über das Beirut der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Nachdem die Hintergrundkulisse der ersten beiden Bücher das völlig fragmentierte, zerschossene, verbarrikadierte Bürgerkriegs-Beirut war, sehen wir hier eine kosmopolitische, wunderschöne Stadt mit palmengesäumten Boulevards und Suks, den Erdnussverkäufern, den efeuberankten Bürgerhäusern und einer sehr bunten Bevölkerung. "Ich wollte dieser Stadt ein Denkmal setzen", sagt sie. Wie versunken dieses Beirut ist, wird klar, als einmal en passant die Zugstrecke erwähnt wird, "die, heute unvorstellbar, Beirut, Damakus, Aleppo und Jerusalem verband." Drei dieser Stadtnamen sind heute Chiffren für Zerstörung und Bürgerkrieg. So wie Paris, diese einmalig schöne Stadt, plötzlich zur Chiffre für den zeitgenössischen Terror wurde.

Aber das ist eine andere Geschichte, die vielleicht eines Tages von Zeina Abirached aufgeschrieben wird. Zurzeit arbeitet sie mit Mathias Enard an einem Romanprojekt, über das sie noch nichts sagen darf, nur dass sich das quasi organisch ergeben hat, "der lebt ja auch dazwischen. Und in diesem Dazwischen haben wir uns viermal hintereinander auf irgendwelchen interkulturellen Panels getroffen." Und so können mitten im Dazwischen ganze Bücher entstehen.

Zeina Abirached: Piano Oriental. Übersetzung aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant Verlag, Berlin 2016. 212 Seiten, 29,95 Euro.

© SZ vom 07.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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