Porträt:Der Alleskönner

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Vor 100 Jahren wurde Leonard Bernstein geboren. Man kennt ihn als einen der großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Als Komponist ist er weniger populär, obwohl er stets auch diese Karriere verfolgte. Recht erfolgreich.

Von Helmut Mauró

Was hat er nicht alles komponiert: drei Symphonien, zwei Ballette, zahlreiche Lieder, eine Klaviersonate, eine Klarinettensonate, die Filmmusik zu "Die Faust im Nacken", ein Stück für Klarinette und Jazz-Ensemble, eine Messe, die Chichester Psalms und schließlich acht abendfüllende Bühnenwerke - von "On the Town" von 1944, "Trouble in Tahiti" von 1952 über das Immigranten-Musical "West Side Story" von 1957 mit seiner Ohrwurmhymne "I like to be in America" bis zu "1600 Pennsylvania Avenue" von 1976. Leonard Bernstein litt zeitlebens darunter, dass man in ihm oft nur den unglaublich begabten, genialischen Dirigenten sah. Aber der war er nun einmal. Bernstein gehört zweifellos zu den Größten seines Fachs, und außer Herbert von Karajan konnte ihm auch niemand das Wasser reichen, wenn es um die Verbindung von musikalischem Talent und Glamour-Marketing ging.

Mentor Koussewitzky drängte Bernstein, sein Talent nicht am Broadway zu vergeuden

Karajan betrieb dies vielleicht weniger aktiv und wirkte insgesamt seriöser, europäischer, während Bernstein das Jet-Set-Party-Leben geradezu zelebrierte und als zweite Bühne verstand, auf der er ganz Mensch sein durfte und everybody's darling. Wenn er sich dabei nach einem anstrengenden Konzert noch zu später Stunde in irgendeinem Bistro an den Flügel setzte, dann flogen ihm Sympathie und Bewunderung zu wie kaum einem anderen Musiker. Doch war ihm dies alles nie genug. Bernstein wollte nichts weniger, als das erste genuin amerikanische Allround-Genie auf dem Feld der Musik sein. Er fand dafür, gerade im erstarkenden US-Nationalismus der letzten Kriegsjahre, große Unterstützung. Bislang waren es vor allem Exileuropäer, die das amerikanische Musikleben prägten: Dirigenten wie Arturo Toscanini und Leopold Stokowsky.

Noch unamerikanischer sah es bei den Komponisten aus. Wirklich große Namen gab es nur wenige: Charles Ives, George Gershwin, Aaron Copland und Samuel Barber waren die einzigen, die aus den USA stammten und einem breiteren Publikum bekannt waren. Aber noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts diskutierte man darüber, ob diese Komponisten auch ein eigenständiges amerikanisches Idiom prägten, oder ob sie nur europäische Traditionen fortsetzten. Doch bevor sich der junge Leonard Bernstein nach dem überwältigenden Erfolg seines Broadway-Musicals "On the Town" als neuer Typus eines uramerikanischen Komponisten vergewissern konnte, wurde er von Serge Koussewitzky, dem gestrengen Chef des Boston Symphony Orchestra, zurückgepfiffen.

Drei Stunden soll die Standpauke gedauert haben, mit der der 70-jährige Koussewitzky seinem 26-jährigen Schüler und Assistenten Bernstein klarmachte, dass man solch ein Dirigiertalent nicht vergeuden dürfe, schon gar nicht am Broadway. Obwohl Bernstein am liebsten genau dies getan hätte, fügte er sich dem Rat des einflussreichen Koussewitzky und widmete sich nun vor allem der Arbeit mit Orchestern und altehrwürdigen Komponisten. Selbst seine Karriere als Pianist ruhte weitgehend - er spielte die immer gleichen wenigen Klavierkonzerte. Was keine grundlegend falsche Entscheidung war, wie man zahlreichen Aufnahmen ablauschen kann. Zum Beispiel der "Leonard Bernstein - Remastered Edition" (Sony) oder der ebenfalls umfangreichen Bernstein-Edition der Deutschen Grammophon, die zudem Filmaufnahmen auf 36 DVDs enthält.

Dort erschien auch eine Neuauflage der neun Beethoven-Symphonien mit den Wiener Philharmonikern. Eines der frappierendsten Beispiele ist die Fünfte; sie ist auch in der Sony-Edition zu finden. Dort allerdings, aufgenommen in New York 1961 mit dem New York Philharmonic Orchestra und all dem krachenden Nachkriegsfuror, mit dem man in Beethoven vor allem das Unberechenbare, Grenzen Sprengende, ja das Monströse suchte. Das klingt trotz der enormen Pegelausschläge keineswegs plump, denn alles, auch die für sich genommen irritierenden Extreme, ist von einer enormen musikalischen Kraft zusammengehalten, die den züchtigen Zeitgeist der Sechzigerjahre hemmungslos überspringt und in nahezu körperlich anmutende Leidenschaft überführt.

Bernstein, so schien es jedenfalls auch jenseits der Bühne, kannte zwar viele Arten der Leidenschaft, wollte da aber keine weiteren Differenzierungen vornehmen - sondern immer alle auf einmal haben. In der DG-Aufnahme vom September 1977 aus dem Wiener Musikvereinssaal klingt Beethoven schon ganz anders: abgeklärter, staatsmännischer fast, aber auch detailverliebter, sanfter, von sensiblerer Dramatik. Die Wiener Philharmoniker hätten wohl auch das stürmische Draufgängertum des jüngeren Bernstein nicht in dieser Schärfe und Härte mitvollzogen, wie dies die New Yorker umsetzten. Bei diesen war Bernstein ab 1943 zweiter Dirigent, die Rundfunkübertragung eines Einspringerauftritts für Bruno Walter machte ihn mit diesem Orchester über Nacht berühmt. Später wurde er deren Chefdirigent - als erster Amerikaner (1958-1969).

Voltaires zynischer Humor im "Candide" funktionierte als Broadway-Musical nur schlecht

Ein Jahr nach der Aussprache mit Koussewitzky schien es, als wolle er ausschließlich diese Karriere weiterverfolgen. "Mit der Musical Comedy habe ich abgeschlossen", sagte er einem Reporter in Vancouver, aber innerlich brodelte es weiter in ihm, sich auch als Komponist zu behaupten. Mehr als zehn Jahre dauerte es, bis nach "On the Town" das nächste Musical folgte. Auch dieses war eher eine Fortsetzung der klassischen Operntradition, als ein neues Genre, wurde aber durch den darin dominierenden Jazz als eigene amerikanische Kunstform wahrgenommen: Die "West Side Story" von 1957 ist nach wie vor Bernsteins erfolgreichstes Stück, "Candide" von 1974 und "1600 Pennsylvania Avenue" kamen da bei weitem nicht heran.

Was könnten die Gründe dafür sein? Zunächst braucht ein Broadway-Musical ein paar Smash Hits. Auch dies ist gute alte Operntradition. Und es braucht Stars. Auf beides wartete man bei der Uraufführung von "Candide" vergebens. Zudem traf die nach Voltaires gleichnamiger zynischer Satire verfasste Geschichte von der "besten aller Welten" offenbar nicht ins Herz der Amerikaner und ihren religiös gestützten, unerschütterlichen Optimismus. Entsprechend vergiftet war das Lob der Zeitschrift Variety, in der unter anderem zu lesen war: "Es ist ein spektakuläres, opulentes und pikantes Musical, das fast schon an die Operette grenzt. Es ist reich an tollen Kostümen, verschwenderischer Ausstattung, mit großem Ensemble und glänzender Musik. Ein großes Hindernis für den Erfolg beim Publikum ist die etwas esoterische Art der Satire. Das Musical muss außerdem drastisch gekürzt werden." Das Stück war zwar keine wirklich vernichtende Niederlage für Bernstein, aber allein die Tatsache, dass er einer 50-prozentigen Kürzung seiner Tantiemen zustimmen musste, war ein deutliches Zeichen für den schleppenden Kartenverkauf.

Die Aufnahmen unter Leitung von John Mauceri, die demonstrativ schwungvolle mit Samuel Krachmalnick (beide Sony) und die sehr plastisch ausgearbeitete unter Leitung des Komponisten ein Jahr vor seinem Tod (DG-Edition), zeigen heute ein positiveres Hörbild. Vor allem, weil man das Stück nun historisch begreifen kann. Beide Einspielungen sind in der verdienstvollen Edition "Leonard Bernstein - The Composer" (Sony) enthalten, in der auch alle übrigen Werke Bernsteins in hervorragenden Aufnahmen zu finden sind: seine Symphonien, Solokonzerte, Theatermusiken, Ballette und Lieder. "Candide", soviel ist dennoch herauszuhören, war schon zu Zeiten seiner Uraufführung 1974, ein bisschen zu altbacken. Es ist die Klangwelt der spätromantischen Oper und Operette, gesungene Dialoge, von Soloflöte und Geige begleitet, zum Teil sehr raffiniert instrumentiert, aber im Vergleich mit den Popmusicals der Siebzigerjahre viel zu klassisch, basierend auf symphonischem Orchesterklang und mit Opernsängern in den Hauptrollen.

Dafür gab es weiterhin ein Publikum, aber der Ansturm hysterischer Teenager blieb aus. Bernsteins Musik hatte die prickelnde Erotik verloren, sie war nicht mehr Kult, nicht mehr cool, nicht mehr Gegenwart und schon gar nicht Zukunft. Was nicht an der grundsätzlichen Qualität der Komposition lag. Aber diese komplexe, traditionelle und bis vor kurzem noch sehr zeitgemäß leichtfüßige Musiksprache hatte offenbar Krampfadern bekommen. Nicht, dass der Swing, der Bernsteins Bühnenwerke so dominiert, ganz aus der Mode gekommen wäre, aber der Spagat zwischen verrauchtem und verruchtem Jazzkeller und divenhafter Opernstimme hielt nicht mehr. Die Idee, aus beidem das Beste herauszuholen und zu einem neuen Genre zu verschweißen - ob man es nun Musical, Musical Comedy oder sonst wie nannte, taugte nicht mehr für die Gegenwart.

Die penetrant gute Laune, die in Musik gegossenen Cocktailparties - selbst die einstigen Broadway-Kassenschlager waren Musikgeschichte geworden. Dabei hatte Bernstein just zur Entstehungszeit von "Candide" das Musical zum Inbegriff amerikanischer Musikkultur ausgerufen. In einer Sendung für ABC-Television 1956 beschwor er seinen Standpunkt: Das Broadway-Musical sei "eine Kunstform, die amerikanischen Wurzeln entspringt, die unserer Sprache, unserem Rhythmus, unseren moralischen Einstellungen, unserem Zeitgefühl, unserer Art von Humor entspricht." Auch wenn der bei "Candide" wohl nicht recht funktionierte. Aber in Sachen Humor und zynischer Wirklichkeitsbeschreibung ist ja momentan so einiges im Umbruch; vielleicht wäre es gerade jetzt an der Zeit, da allenthalben die politischen Idyllen zerbrechen, solch eine hintergründige Komödie wie "Candide" wieder aufzuführen. Man könnte sich dabei an Bernsteins Klangwelt ganz neu herantasten. Was wesentlich leichter fallen dürfte als bei anderer E-Musik der Zeit. Man darf nur keine Angst haben, sich unter Niveau unterhalten zu lassen, wenn die Musik gar zu eingängig ist. Denn Bernstein war nicht nur geleitet von einem grundmusikalischen Empfinden und einem feinen Gespür für den Zeitgeist, sondern er beherrschte auch das kompositorische Handwerk.

Allein die ausgebufften Instrumentationen sind ein Fall für sich. Die Oper "Trouble in Tahiti" ist dafür ein ergiebiges Studienobjekt, wenn man die Übergänge von Singstimme zum vollen Orchesterklang oder ins Kammermusikalische studieren will oder auch das Zusammenwirken unterschiedlicher Singstimmen. Sucht man opulente Farbigkeit und rhythmische Raffinesse, wird man sich für die Ballettmusik "Dybbuk" begeistern, wo einen zudem die zugedachten Tanzbewegungen geradezu anspringen. Außer vielleicht hohen Tantiemen gibt es eigentlich keinen Grund, Bernsteins Musik nicht häufiger aufzuführen. Die Zeiten, in denen man zwischen seriöser Klassik und Broadway-Nippes unterschied, sind vorbei, im Gegenteil. Auch die ernste Moderne sucht nach Mainstream-Anbindung, und ein gelungener Popsong bringt heute nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Ansehen als ein E-Musik-Experimentalstück zur Veränderung der Hörgewohnheiten. Die hält sich bei Bernstein allemal in musikalisch akzeptablen Grenzen.

© SZ vom 13.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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