Porträt:Alles unter Kontrolle

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Er ist ausgebildeter Tänzer und Choreograf und ein Star der zeitgenössischen Kunst. Nun arbeitet er daran, Theater und Museum wieder neu zusammenzubringen: Tino Sehgal. (Foto: Christian Kielmann/imago)

Tänzer, Choreograf - und Star der Kunstszene: Eine Begegnung mit Tino Sehgal, der bald die Berliner Volksbühne bespielt.

Von Eva-Elisabeth Fischer

Da kommt eine hübsche Blonde auf dich zu und singt: "Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann". Was will die denn? Warum singt sie ausgerechnet diesen Fünfzigerjahre-Schlager von Trude Herr? Nichts wie weg! "This you, 2006" sagt sie noch in Hörweite, bevor sie die nächste Passantin mit "Summertime" beglückt.

Die junge Frau, die dieses wandelnde, tönende Kunstwerk verkörpert, benennt es auch und ist damit Objekt und Subjekt zugleich. "This you, 2006" macht selbst den, der es sich ausgedacht hat, jedes Mal ein wenig nervös, wenn er daran vorbeigeht. Es ist Tino Sehgal, Darling des Kunstbetriebs seit 2005. Damals mischte er die Besucher des Deutschen Pavillons bei der Biennale in Venedig mit dem Schlachtruf "This is so contemporary" auf. Seitdem liegt die Szene dem kapriziösen Künstler zu Füßen.

Nun, in Basel, irritiert selbst Sehgal jede neuerliche Begegnung mit der Sängerin im Park der Fondation Beyeler, weil er genau weiß, was passiert, aber eben nicht weiß, wie sie ihn in diesem Augenblick wahrnimmt. Denn sie reagiert ebenso spontan wie individuell auf die Passanten mit der Wahl ihrer Lieder - und die wiederum laufen entweder davon oder umarmen sie dankbar.

"Opak" ist ein Wort, das ihm gefällt. Dafür hasst er den Begriff "Performance"

Tino Sehgal plant derlei Reaktionen nicht ein, sie passieren einfach. Er selbst ist an diesem sonnigen Nachmittag entspannt. Er nimmt gelassen im Restaurant des Museums Platz, bereit für ein Gespräch, ein hochgewachsener, nicht sonderlich durchtrainierter Mensch von 41 Jahren mit weichen Konturen, dunklem Teint und wachsamem Blick, der immer wieder in Richtung seiner beiden Fußball spielenden Söhne im Park wandert. Der Mann hat alles unter Kontrolle.

Dieses Treffen hatte einen komplizierten Vorlauf und ist, wie alles, was Sehgal betrifft, mit Ge- und Verboten belegt. Diese sind notorisch, sie sind die Säulen seines Kunstüberbaus. Die wichtigste davon ist das Bilderverbot: Du sollst dir kein Bild machen - keine Fotos, keine Videos, keine Filme dürfen von seinen Performances gezeigt werden. Die Kaufverträge seiner Werke werden nicht schriftlich fixiert, sondern mündlich von einem Notar beglaubigt. Das Werk selbst gibt es ohnehin nur, solange es aufgeführt wird. Zurzeit werden jeweils zwei von sechs seiner frühen sogenannten konstruierten Situationen bis zum 12. November in der Fondation Beyeler durchgehend während der Öffnungszeiten gezeigt.

Immerhin: Während des Gesprächs darf das Band mitlaufen, zur Gedächtnisstütze. Man wolle ihn doch nicht dauernd zitieren, sagt er gleich zu Beginn. Ein Abdruck des Gesprächs als Wortlaut-Interview geht gar nicht. Auf diese Weise reicht der verlängerte Arm des Künstlers in die Berichterstattung hinein. Die Reporterin wird zur Figur im Sehgal-Spiel und trägt notgedrungen dazu bei, woran ihm am meisten gelegen ist: keine Spuren zu hinterlassen.

Denn Tino Sehgals Medium ist die flüchtige Kunst des Tanzes. Seine Tanzenden bespielen als bewegte Skulpturen vorwiegend Museen und nur selten ein Theater, dann aber zur Gänze, Zuschauerraum und sämtliche Foyers inklusive.

Wortreich umkreist Sehgal das Wie und Warum des eigenen Tuns und stößt dabei doch nicht vor zum Kern. Er rettet sich in schon mal Formuliertes - wie hatte er doch kürzlich in Moskau auf eine ähnliche Frage geantwortet? - oder führt weitschweifig aus, wonach man ihn gar nicht gefragt hat. Er sei sich selbst opak, sagt er.

Opak ist ein Wort, das ihm gefällt. Ein Wort, das er hasst, ist der Begriff Performance für das, was er macht. Eine Performance sei experimentelles Theater, gemacht von Leuten, die eigentlich bildende Künstler sind. Sehgal aber ist Tänzer und Choreograf, ausgebildet an der Folkwangschule in Essen.

Aber nach dem Rummel auf der Venedig-Biennale brauchte sein Ding einen Namen. Er fand ihn im Gespräch mit dem Konzeptkünstler Joseph Kosuth, einem Situationisten, also Mitglied einer Gruppe marxistischer Künstler und Intellektueller, die sich in den späten Fünfzigerjahren formierte. Die flüchtigen Werke sollten fortan "konstruierte Situationen" heißen und die Menschen, die darin agierten, "Interpreten".

Der 1976 in London geborene Tino Sehgal knüpft mit seinen bewegten, klingenden Menschenskulpturen an das epochemachende Œuvre der postmodernen Tänzer an, die in den frühen Sechzigerjahren in der Judson Church in Manhattan zusammenfanden und Galerien, Museen und den öffentlichen Raum enterten. Simone Forti etwa stapelte in "Huddle" Männer und Frauen zu Menschenhaufen im Museum und gemahnte so mit atmenden Körpern an die Leichenberge in den KZ. Lucinda Childs verwandelte sich in "Museum Piece" mit Lockenwicklern und Mülltüten in ein wandelndes, komisch-ironisches Objet trouvé. Und Trisha Browns Tänzerinnen baumelten als lebende Installation in "Floor of the Forest" kopfüber zwischen Altkleidern in einem Stangengeviert.

Als Paten seiner künstlerischen Initiation fallen Namen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Er nennt den intellektuellen Ballett-Erneuerer William Forsythe und den Polit-Wüterich Johann Kresnik. Forsythe ging mit seinen begehbaren Installationen Anfang der Nullerjahre selbst ins Museum. Kresnik verhalf dem 17-, 18-jährigen Tino Sehgal zu Schlüsselerlebnissen, zu seiner Epiphanie, wie er selbst sagt. Zum einen habe er bei einer Kresnik-Aufführung begriffen, dass am Theater alles möglich sei. Kresniks Solo "Francis Bacon" für den brasilianischen Tänzer Ismael Ivo öffnete ihm die Augen dafür, dass Tanz und bildende Kunst unverbrüchlich zusammengehörten.

Sehgal, Sohn eines indischen Vaters und einer deutschen Mutter, glücklich aufgewachsen in einem gänzlich amusischen Elternhaus im schwäbischen Böblingen, ist heute noch dankbar für seine Unterweisung durch Altachtundsechziger-Lehrer. Politisch steht er nach wie vor links, in seinem Werk aber wird man Agitprop oder Parteilichkeit vergeblich suchen. Auf den Spuren von Christoph Schlingensief verfolgte er die Demokratisierung des Theaters. Es inspirierten ihn außerdem die Ideen zur öffentlichen, selbstreferenziellen Reflexion von Tanz der Non-Dance-Apostel und Konzeptchoreografen Xavier LeRoy, Boris Charmatz und Jérôme Bel in den späten Neunzigerjahren.

Bei Sehgal aber obsiegte, Konzept hin oder her, die Sinnlichkeit, gegossen in weich schlängelnde, aber hoch konzentrierte Bewegungen. In "Kiss, 2002" zum Beispiel, wenn drei alternierende Paare, im Kuss vereint, jedes von ihnen je 2:40 Stunden lang in steter Umarmung den Raum in Zeitlupe durchdringen. Er hat "Kiss" - obwohl ein Topos der Kunstgeschichte etwa bei Auguste Rodin oder Gustav Klimt -, jahrelang nur in leeren Räumen aufgeführt. Jetzt, im Museum der Fondation Beyeler, konfrontiert er die als perfekten Loop konstruierte, sich auf und ab bewegende Paarskulptur mit einem wundersam glatten grauen Marmorvogel von Constantin Brancusi und einem Spiegel von Gerhard Richter an der Wand gegenüber.

Man ist geneigt, Korrespondenzen zwischen dem auf- und ab wogenden Paar und den Exponaten herzustellen, die der Künstler gar nicht beabsichtigt hat. So wie man es im vergangenen Sommer im Wiener Museum Leopold tat. Dort konnte man die intime Umarmung auf der Egon-Schiele-Etage umrunden. An diesem sonnigen Spätnachmittag gehen die drei Paare bei einer Probe in einem Gartenhaus zu Boden. Sehgal korrigiert sie freundlich und präzise und nimmt deren unterschiedlich ausgeprägtes Körpergefühl zur Kenntnis.

Am 10. November wird Sehgal die ganze Volksbühne bespielen - mit den Zuschauern mittendrin

Klein, aber wirkmächtig, faszinieren die konstruierten Situationen in der Fondation Beyeler, ob im Museum oder im Park. Groß hingegen wird die Rückkehr Tino Sehgals an den Ort seiner künstlerischen Initiation an der neu eröffneten Volksbühne in Berlin inszeniert werden. Chris Dercons Dramaturgin Marietta Piekenbrock hat miterlebt, wie Sehgal vor einem Jahr die Pariser Oper eingenommen hat, wie Tänzer vor der Bühne stiegen und direkt vor der Nase der Zuschauer tanzten, wie jedes noch so kleine Foyer des imperialen Hauses belebt wurde. Ähnliches wünschte sie sich für die Volksbühne. Auch dort wird Sehgal am 10. November das ganze Haus bespielen mit all seinen Leuten - und den Zuschauern mitten drin. Ihn interessiert das Phänomen des Theaterabends, zu dem sich der "Kollektivkörper" Publikum zu einer festen Uhrzeit einfindet. Publikum, betont er, ist Singular. Und geschlechtsneutral, möchte man hinzufügen. In einem Museum wie in Basel hingegen laufen täglich an die 3000 Leute hindurch, so Sehgal, zumeist Einzelwesen, wobei selten so ein Fokus zusammenkomme wie im Theater.

Sehgal will in der Volksbühne eine Mischung beider Erfahrungswelten versuchen, des Theaters und des Museums, auf der Basis unbekannter Einakter von Samuel Beckett: ein Theater, in dem es das demokratische, liberale Element gebe, dass jeder kommen und gehen könne, wann er will, mit seinem Nachbarn reden könne oder nicht und dabei möglicherweise die gleiche Intensität wie bei Theateraufführungen oder Konzerten empfinde.

Es ist das erste Mal, dass Tino Sehgal fremde Texte adaptiert. Die grundsätzlich existenziellen Einakter Becketts bilden die Folie für einen Abend, der auch von Kunst und Sprache oder Kunst und Sprechen handelt oder auch dem Kunstanspruch an Sprache. Becketts Texte bilden die sinngebende Ebene für die Anstrengung, den Zwischenbereich von Ausstellung und Aufführung zu kreieren. Tino Sehgal weiß nicht, ob das aufgeht. Niemand weiß das.

Tino Sehgal. Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 12. November. Info: www.fondationbeyeler.ch

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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