Polnische Literatur:Katz, Maus, Papst

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Zwischen Katholizismus und Kommunismus: Wioletta Greg erzählt in ihrem Roman "Unreife Früchte" von einer Kindheit in Polen zur Zeit des Kriegsrechts und der Solidarność.

Von Ulrich Rüdenauer

Am Anfang gibt es keinen Begriff für die Zeit. Das Kind muss erst lernen, sich in die Strukturen des Früher und Später einzuordnen. So sind auch die Erinnerungen, die in die ersten Jahre zurückführen, bestimmt von einer schönen Anarchie: Das Unbedeutende erscheint ganz groß, weil es sich uns aus irgendwelchen Gründen eingeschrieben hat. Das vermeintlich Bedeutsame hingegen mag verblasst sein, nur noch wie durch eine Milchglasscheibe wahrnehmbar oder in einem Nebensatz aufbewahrt. Unser Blick zurück nach innen hüpft von Bild zu Bild, ohne dass diese Bilder sich notwendigerweise aneinanderreihen zu einem Film. Und manchmal sind da kaum aufzufüllende Lücken, legt sich der großzügige "Schleier der Amnesie" (Freud) über das, was vergessen sein will oder nicht in die eigene Geschichte passen mag.

„Unreife Früchte“ spielt im schlesischen Dorf Hektary. Den Ort gibt es nicht und gibt es doch: Vorbild ist das Dorf Rzeniszów, in dem die 1974 geborene Dichterin Wioletta Greg zu Zeiten des Generals Jaruzelski aufgewachsen ist. – Ein „Solidarność“-Banner beim Besuch des Papstes in Tschenstochau, Juni 1983. (Foto: AP)

Wer als Erwachsener zurückschaut auf den Mikrokosmos des Kindes, muss mit dieser höchst partiellen Erinnerung zurechtkommen. Oder damit jonglieren. Wioletta Greg spielt auf faszinierende Weise mit ihren eigenen Kindheitsgeschichten, die sie in dem Band "Unreife Früchte" in kleinen Szenen zu einem Roman aneinanderfügt - jede Episode für sich genommen ein Splitter, in dem das facettenreiche Ganze sichtbar wird, und alle Splitter zusammen ein Spiegel des Ich mit kleinen Rissen und großen Brüchen. Diese Miniaturen - die englische Übersetzung des Buches hat es auf die Longlist des Man Booker International Prize geschafft - führen zurück in die Siebziger- und Achtzigerjahre im kleinen schlesischen Dorf Hektary. Den Ort gibt es nicht und gibt es doch: Vorbild ist das in eine bildstarke Kulisse verwandelte Dorf Rzeniszów, in dem die 1974 geborene Dichterin Wioletta Greg zu Zeiten General Jaruzelskis und von Solidarność aufgewachsen ist. Wiolka oder Loletka wird sie im Buch von den Eltern gerufen.

In dieser bäuerlichen Welt ist trotz der Fortschrittsfloskeln alles, wie es immer gewesen zu sein scheint

Es ist eine abgelegene, aber keine gottverlassene Gegend. Einmal bereitet sich die Gemeinde auf einen bedeutenden Gast vor: Johannes Paul II. soll Hektary zwar nicht besuchen, aber das Dorf in seinem Papamobil doch wenigstens passieren. Die frommen Frauen nähen Wimpel, die von den Männern zu Ehren des Papstes an der Straße aufgehängt werden. Allzu lange schmückt die Wimpelkette das Dorf allerdings nicht: Es warten schon andere, die den Auftrag haben, sie abzureißen und in den Schmutz zu werfen. Es ist ein bisschen wie bei Don Camillo und Peppone: Katholiken und Kommunisten spielen hier Katz und Maus. Der Papst übrigens macht am Ende doch einen Bogen um Hektary; mit dem Hubschrauber hat man ihn bereits am Morgen des großen Tages nach Tschenstochau geflogen.

Wioletta Gregs Roman ist eine Zeitreise. Mit Wiolka streunen wir durch eine bäuerlich geprägte, durch und durch katholische und zugleich vom Aberglauben beherrschte Welt, in der trotz der sozialistischen Fortschrittsfloskeln alles so ist, wie es immer schon gewesen zu sein scheint. Für das Kind sind die Dinge natürlich dennoch staunenswert und neu. Einmal findet die kleine Wiolka einen Kater, mit dem es nicht gut ausgehen wird; aber einen Sommer lang streicht sie mit ihm durch die Felder. "Blacky zeigte mir eine andere Geometrie der Welt, eine, in der nicht die mit Disteln und Gänsefuß bewachsenen Raine, die gepflasterten Wege, die Zäune, die gemähten oder von Menschen ausgetrampelten Pfade die Grenzen markierten, sondern das Licht, die Geräusche und die Elemente. Mit Blacky lernte ich, in Hohlblocksteine und Heumieten zu kriechen, auf Apfel- und Kirschbäume zu klettern, in Brombeerhecken versteckte Kalksteingruben zu umgehen, Hornissennester, Moraste und Schlingen im Getreide zu meiden."

Wir Leser entdecken in Gregs Roman ebenfalls eine eigene Geometrie, einen verwinkelten, unermesslichen Raum voller Geheimnisse und Magie. Aber auch die ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrnehmende Wiolka stößt an die Wirklichkeit und nimmt schemenhaft die unüberwindliche Macht des Vergangenen wahr - die Deutschen und die Sowjets, das sind die Gespenster, die im Bewusstsein der Menschen furchteinflößend herumspuken. Und sie entdeckt, je älter sie wird, Unheimliches und Verwirrendes. Bei einem Arztbesuch macht sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit den Abgründen der Erwachsenenwelt. Der Doktor führt das Mädchen hinter einen Wandschirm und kommt ihm verdächtig nah. "Er knöpfte den Hosenschlitz auf, kam noch näher und gab mir seinen Penis in die Hand wie ein Röhrchen aus Knete. Ich sprang weg und verpasste ihm einen Tritt ins Schienbein." Wiolkas Erlebnisse werden niemals bewertet, sondern aus der Perspektive des Kindes registriert, dem eigenen Vorstellungshorizont eingefügt, hingenommen.

So durchzieht dieses sinnliche Buch, in dem es nach frischem Heu und erhitztem Wachs, nach verbrannter Tierhaut und nach verrotteten Wurzeln, Schlamm und Kardamom riecht, bei aller Lakonie und auch Witz zwar keine Nostalgie, aber doch ein melancholisches Grundrauschen. Als Wiolkas Vater stirbt, ist er gerade fünfzig Jahre alt. Die Jugendliche erinnert sich am Tag des Begräbnisses daran, wie er einmal zu ihr über die Seltsamkeit des Lebens sprach. "Kaum hab ich mich in der Welt umgesehen, da nennen die Leute mich schon einen alten Mann, dabei bin ich innen noch wie ein unreifer Apfel." Von diesem nie vergehenden Gefühl der Absurdität und Vergänglichkeit spricht dieser Roman - und er tut das auf eindrückliche, berührende, poetische Weise.

© SZ vom 31.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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