Performance:Kunst der Liebe

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Schambarrieren ausloten: Das Kollektiv She She Pop macht die eigenen Erfahrungen zur Kunst. (Foto: Judith Buss)

Das Kollektiv She She Pop mit "Fifty Grades of Shame" an den Münchner Kammerspielen

Von Petra Hallmayer, München

Für "Spielart"-Besucher sind sie gute Bekannte. Auf dem Münchner Festival stehen She She Pop seit vielen Jahren immer wieder auf der Gästeliste. Nun hat Matthias Lilienthal das von einem Mann ergänzte Frauenkollektiv eingeladen, sich gemeinsam mit Schauspielern seines Ensembles mit Wedekinds "Frühlings Erwachen" auseinanderzusetzen. Eine klassische Inszenierung des Dramas um die Verheerungen einer repressiven Sexualerziehung darf man bei She She Pop natürlich nicht erwarten. In der Performance "Fifty Grades of Shame" führen sie ihre Vision von Sexualkunde vor und verknüpfen das Skandalstück von 1891 mit Motiven aus E. L. James Bestseller "Fifty Shades of Grey".

Wedekinds "Kindertragödie", meint Ilia Papatheodorou, eines der Gründungsmitglieder der Gruppe, sei "zu tief in ihrer Zeit verwurzelt, um sie ins Heute übertragen zu können." Zu fern sind uns die Nöte der Schülerin Wendla, die nicht weiß, woher die Kinder kommen und an einer Abtreibung stirbt, und des von schambesetzten Begierden gepeinigten Moritz, für den sein Freund Melchior eine Aufklärungsschrift verfasst. Die Vermessung der Sexualität durch die Wissenschaft und die Pornografisierung der Gesellschaft, so Papatheodorou, bedeute jedoch keineswegs, dass wir nicht mehr der Aufklärung bedürften. Tatsächlich sind längst neue Normen, Tabuisierungen, Leistungszwänge und Formen der Scham entstanden. Denen möchten She She Pop eine Einführung in die Ars Erotica, die Kunst der Liebe, entgegensetzen. Die Zuschauer werden in den Kammerspielen zu Adepten, denen die Performer als "Lehrerkollegium" ein "Bilderbuch der Sexualaufklärung" präsentieren. "Wir versuchen, unsere eigenen Erfahrungen mit Mitteln der Kunst zugänglich zu machen."

Schambarrieren auszuloten und persönliche Erfahrungen als künstlerisches Material zu verwenden, ist ein Charakteristikum der Theaterabende von She She Pop. In "Testament", einer berührenden Performance über den Generationenvertrag anhand von Shakespeares "König Lear", holten sie ihre Väter auf die Bühne, in "Frühlingsopfer" waren ihre Mütter via Video präsent. Mit privatistischen Selbstentblößungen aber, sagt Papatheodorou, habe das nichts zu tun. "Jeder autobiographische Input wird nach konzeptionellen und dramaturgischen Kriterien bearbeitet." Während das Kollektiv in seinen frühen Shows, in denen Popkultur-Zitate und Kinderspiele für Erwachsene auf Kapitalismuskritik und Gendertheorien trafen, seine Texte selbst verfasste, wendet es sich inzwischen literarischen Vorlagen zu, die es sich auf ganz eigene Weise anverwandelt. In "Fifty Grades of Shame" dienen Wedekinds Stück und Passagen von E. L. James als "Absprungbrett für Diskussionen, Rollenspiele und performative Experimente".

Die komplette Lektüre von James' Mix aus Softporno und Liebesmärchen haben sich einige Mitwirkende erspart. Sprachlich ist der Roman eine Tortur, in dem eine Studentin einen Milliardär mittels masochistischer Unterwerfung von seinen Traumata erlöst und in einen großen Liebenden verwandelt, sowie Kleinmädchenträume und das Phantasma des Masochismus, das eine sehr weibliche Sehnsucht enthält, wahr werden. Interessant war das Buch für die Performer primär als ein Phänomen des Zeitgeistes. "Anastasia verkörpert den gesellschaftlichen Imperativ der Selbstentfaltung, als deren Werkzeug die Sexualität fungiert. Uns wird beständig eingeredet, dass wir unsere Persönlichkeit nur dann entfalten, wenn wir vollkommene sexuelle Erfüllung erlangen. Das ist natürlich eine Lüge. Doch sie hat eine gewaltige Verführungskraft und ist das perfekte Instrument, uns Produkte zu verkaufen, die uns schöner und glücklicher machen sollen."

Der Frage, ob es möglich ist, neu und anders über Sexualität zu sprechen, möchte die Gruppe She She Pop nun in ihrer Performance nachgehen, die sie als eine Art Utopie versteht. "Wir versuchen", sagt Papatheodorou, "Körpergrenzen und Denkschranken zu überwinden und eine kollektive sexuelle Fantasie zu kreieren mit Bildern, die fantastischer und schöner sind als die normkonformen Bilder der Medien". Realisierbar wird dies mittels einer komplexen Live-Video-Technik, durch die sich Körper zerteilen und neu zusammensetzen lassen. "Wir wollen die Bühne als einen utopischen Kommunikationsraum nutzen, der mehr erlaubt als die Realität - mehr erotische Konstellationen, mehr Freiheit, mehr Ehrlichkeit, mehr Verwirrung."

© SZ vom 03.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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