Opernpremiere:Auf der Flucht von Troja über Karthago nach Rom

Lesezeit: 3 min

Hamburgs neue Opern-Ära beginnt der Stardirigent Kent Nagano fulminant mit dem Monumentalepos "Die Trojaner" von Hector Berlioz.

Von Wolfgang Schreiber

Weltgeschichte auf der Opernbühne ist der Normalfall, von Claudio Monteverdi über Giuseppe Verdi bis Wolfgang Rihm. Aber hier wird keine "normale" Opernpremiere gegeben, sondern der Beginn einer neuen Zeitrechnung an Hamburgs Staatsoper, nach den Jahren von Simone Young - mit Kent Nagano, dem früheren Musikchef der Bayerischen Staatsoper, als neuem Hamburger Musikdirektor und dem ehemaligen Leiter des Theaters Basel, Georges Delnon, als Intendanten. Der Beginn einer emphatisch verstandenen "Ära"? Viel ehrgeiziger jedenfalls als mit dem fünfaktigen Historienspektakel "Les Troyens" des französischen Romantikers Hector Berlioz, vergleichbar nur mit Wagners "Ring", kann man kaum beginnen.

Was die Wahl des Stücks für eine erneuerte Hamburger Operndramaturgie bedeutet, erklärt Georges Delnon kurz vor der mit viel Lokalprominenz versehenen, am Ende beifallumrauschten Premiere. Oper soll politische Zusammenhänge aufreißen, Themen wie Revolution, Krieg, Flucht, Befreiung in sich tragen. Delnon dringlich: "Es muss etwas verhandelt werden" - und das über drei oder vier Spielzeiten hinweg. Sein und Naganos erster Spielplan sagt das deutlich: mit Mozarts Anti-Feudalismus-"Figaro", einer neuen Oper des Japaners Toshio Hosokawa über Fukushima und die Atomkatastrophe, mit Gioachino Rossinis "Guillaume Tell" und einem Szenenaufriss der Matthäuspassion durch Romeo Castellucci. Die Opera stabile bringt gerade die Uraufführung des Musiktheaters "Weine nicht, singe" von Michael Wertmüller und Dea Loher. Hamburg also, nach Delnon der große "Transit-Ort", ist musikalisch im Aufwind. Von 2017 an wird die Elbphilharmonie auch für Naganos Philharmoniker starke Akzente setzen.

Opernmythen spielen vehement in der Gegenwart: allerorten Krieg, Gewalt, Tod, Vertreibung

Aber selbst für den Hochleistungsdiri-genten Nagano, der unverändert im kanadischen Montreal symphonisch engagiert ist und sich mit französischen Klangfarbexperimenten auskennt, sind fünf Stunden Berlioz mit der schönen gewaltigen Rauschmusik der "Trojaner" viel zu lang. Eine behutsame, um die Ballettstrecken gekappte Bearbeitung durch den französischen Komponisten Pascal Dusapin wurde erforderlich. Und so dirigierte Nagano die an markigen Chören und verführerischen Ariosi und Arien reiche Partitur mit klarem rhythmischem Elan und melodischer Eleganz, mit das Tongewebe aufhellendem Zugriff. Offenbar hat er Berlioz' Selbstdisziplinierung verinnerlicht: "Man muss versuchen, die brennenden Dinge kühl auszuführen." Dass Nagano den Beginn der Oper eine Spur zu hektisch nahm und damit auch den robusten Chören (Eberhard Friedrich) zunächst Probleme bereitete, konnte den guten Gesamteindruck nicht schmälern.

Selbst alte Opernmythen spielen heute vehement in der Gegenwart: Krieg, Ge-walt, Tod, Vertreibung, Flucht allerorten, allerzeiten. Sie werden in dem Gesang von Menschenstimmen mit einer anderen Tiefe und Wucht aufgeladen. So bekommt gerade "Les Troyens", deren vom Komponisten verfasstes Libretto dem Epos des römischen Dichters Vergil folgt, heute eine bestürzend akute Wahrheit und Dringlichkeit - liegen doch die Schauplätze des Trojanischen Kriegs und seiner Folgen tatsächlich am Mittelmeer: Die Flüchtlinge um den Rom-Gründer Äneas ziehen, von den brutal siegreichen Griechen aus Troja, in der heutigen Westtürkei, vertrieben, nach Karthago, heute in Tunesien, und von dort nach Italien. Beide Frauen um Äneas aber wählen verzweifelt den Selbstmord, Kassandra, die die Katastrophe magisch vorhersieht, noch in Troja und Dido, die an ihrer zerstörten Leidenschaft für Äneas stirbt, in Karthago.

Regisseur Michael Thalheimer, in Schauspiel und Oper ein Meister kluger, nur manchmal allzu strikter Reduzierung von Bildern und Gesten (etwa bei seinem Berliner "Freischütz"), ist auch bei den "Trojanern" seiner Neigung zur stilisierten Größe, Abstrahierung von allzu realistischen Handlungselementen, gefolgt. "Wir haben es nur mit Vertriebenen zu tun", sagt Thalheimer zwar über das Personal der Berlioz-Oper, aber er widersteht der möglichen Versuchung, die er vielleicht gar nicht spürte, Bilder von Schauplätzen und Menschen aus der Gegenwart zu zeigen. Nur die Kostüme der Choristen und Solisten (Michaela Barth) lassen exquisit einen heutigen Alltag gegenwärtig werden.

Thalheimer und sein Bühnenbildkünstler Olaf Altmann lassen die Oper in einem extrem hohen leeren Raum spielen, zwischen zwei mächtigen Wänden und einem Plafond darüber, der ein bewegliches Element darstellt: Wenn der Deckel langsam nach vorn oder hinten kippt, erschafft er wechselnde Lichtverhältnisse und Räume der Öffnung oder Bedrohung. Unwillkürlich denkt man an die monumentalen Installationen von Anish Kapoor. "Blut" oder "Regen" rieseln auf der Plafondschräge furchterregend nach unten. Die Platte kippt oder rotiert leider etwas zu häufig, der magische Effekt wird schwächer.

Die eigentliche Schwäche der Inszenierung liegt in der flachen, teils unbeholfenen Personengestaltung. Geringe Körperspannung der Handelnden, die wie Skulpturen wirken sollen, ist die Regel. Selbst im großen Liebesduett Äneas-Dido, wo beide, musikalisch allzu sanftmütig edel, sich ihrer "Nacht des Rauschs und der grenzenlosen Ekstase" vergewissern, singen Torsten Kerls schneidende Tenorstimme und Elena Zhidkovas ausdrucksbeseelter Mezzosopran aneinander vorbei. Sie müssen öfters affektierte Gesten ausführen. Dramatischer ringt die Kassandra der Catherine Naglestad um Glaubwürdigkeit ihres Unglücks. Die Chöre bleiben in der Statik satter Massenhaftigkeit gefangen, das große Hamburger Ensemble insgesamt, mit herausragenden Sängern wie Julian Prégardien, Markus Nykänen oder Katja Pieweck, besteht eine Bewährungsprobe - bei dem fulminanten Beginn einer neuen, weltpolitisch grundierten Opernepoche in Hamburg.

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: