Oper in London:Was kann es bedeuten?

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Klaus Maria Brandauer in der einzigen Sprechrolle zu Beginn. (Foto: Clive Barda/ROH)

Die Welturaufführung von Georg Friedrich Haas' Oper "Morgen und Abend" mit Klaus Maria Brandauer im Londoner Royal Opera House

Von Simon Tönies

"Diese Passage der Oper ist extrem laut und überschreitet für viele Menschen die Schmerzschwelle", schreibt der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas, Jahrgang 1953, in der Partitur zu seiner neuen Oper "Morgen und Abend". Denn so stellt er sich das Sterben vor: gleißendes Licht und vierfaches Forte. Dass von dieser Klangvision bei der Londoner Uraufführung unter der Leitung von Michael Boder nur ein glimmendes Mezzoforte übrig blieb, war Symptom für den ganzen Abend: Schade, wenn die Oper einen Romanstoff so wenig transzendiert, wenn ein Regisseur so wenig dazu zu sagen hat wie bei dieser Koproduktion des Royal Opera House und der Deutschen Oper Berlin.

Die Romanvorlage des Norwegers Jon Fosse aus dem Jahr 2000 erzählt in einem einzigen Bewusstseinsstrom, buchstäblich ohne Punkt und Komma, von der Geburt und vom Tod des Menschen. Es ist die Lebensgeschichte des norwegischen Fischers Johannes, die vor den Augen des hinscheidenden Greises noch einmal abläuft. Zum Schluss spaziert er durch seine entsetzte Tochter Signe hindurch und segelt mit dem Geist seines bereits verstobenen Freundes Peter hinaus ins Nichts.

Die Requisiten sind so kreidebleich wie die Gesichter der umherspukenden Personen

Was albern klingt, verarbeitet Fosse zu einem anrührenden Roman. Der Leser erlebt bis zu den letzten Seiten Johannes als einen lebendigen Menschen.

Das geht in der Oper nicht, die jeden Realismus aufgibt, sobald einer zu singen anfängt. Bei Regisseur Graham Vick ist daher auch von der ersten Minute an alles klar: Auf der Bühne stehen ein Bett, Stühle, ein Boot - alles so kreidebleich wie die Gesichter der umherspukenden Personen. Und wenn Johannes - zu Beginn offensichtlich schon tot - darüber klagt, dass er am liebsten gar nicht aufstehen möchte, tut er das überall, nur nicht im Bett. Das ist vielleicht das Hauptproblem: Vick entgeht, dass es gar nicht so einfach ist, für ein Gespenst Empathie zu empfinden.

Den Prolog bildet im Buch wie auch im Stück das sorgenvolle Warten von Johannes Vater, hier gespielt von Klaus Maria Brandauer, auf die Geburt seines Sohnes. Was sich als Gefühlskrimi liest, pendelt auf der Bühne zwischen Lethargie und Kasperletheater. Brandauer, der in der einzigen Sprechrolle des Abends immer wieder mitten im Satz abbrechen und auf den Einsatz des Dirigenten warten muss, hat mit solcher Einengung merkliche Schwierigkeiten. Er sitzt auf einem Stuhl, stammelt einige Worte, wartet. Seine Ausbrüche wirken aufgesetzt. "What can it mean?", Was kann es bedeuten?, sagt er einmal. Das wusste an dem Abend wohl keiner so recht.

Christoph Pohl singt dann die Partie des Johannes mit einer lyrischen, unprätentiös sprechenden Baritonstimme; der Alt von Helena Rasker als Fischersfrau Erna bringt mit starker Bruststimme so etwas wie Erotik ins Spiel. Und Sarah Wegener, die als Einzige längere Passagen in Viertel- und Sechsteltönen singen muss, demonstriert technische Präzision. Wenn sie eine Melodie in den engsten Mikrointervallen singt und dabei jeder neue Ton von einem Streichinstrument verdoppelt wird, bis ein flirrender Akkord fast alle Sechsteltöne einer Oktave vereinigt, ist das ein mystischer Moment, der für vieles entschädigt.

Es bedarf vieler solcher Augenblicke, damit das Experiment gelingt, einen ganz und gar untheatralischen Text zu dramatisieren und musikalisch schlüssig zu kommentieren. Die Mikrointervalle zwischen den traditionellen Halbtönen hat sich der inzwischen weltweit gefeierte Georg Friedrich Haas aber für den Großteil des Stücks verboten. Das ist erstaunlich, gehört doch die musikalische Atomspaltung ganz wesentlich zu Material und Vokabular seiner "musique spectrale". Ohne diese Ausdifferenzierung im Kleinsten bleibt nur Grobes übrig, aneinandergereihte Sequenzen aus stehenden Quinten, Zwölfton-Clustern und langsam auskomponierten Glissandi.

Haas scheint sich, so erklärt er in einem Youtube-Video, den Voraussetzungen des Opernbetriebs gefügt zu haben, die lange Probenzeiten für die Erarbeitung einer durchgehend mikrointervallischen Partitur nicht dulden. Wenn aber ein Opernorchester von internationalem Rang nicht einmal den Grundstoff sich anzueignen gewillt ist, wirft das ein trauriges Licht auf den künstlerischen Stellenwert solcher Prestigeprojekte. Der Komponist sollte ja nicht für die Institution da sein, sondern die Institution für den Komponisten. Sonst ist das Projekt wie der Fischer Johannes im Stück: von Beginn an tot.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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