Norwegische Literatur:Heldenhaft wild und hart poetisch

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Harter Kerl: Tomas Espedal. (Foto: Gerhard Leber/imago)

Der andere Knausgård: Die autobiografischen Skizzen des Norwegers Tomas Espedal sind auf Deutsch erschienen.

Von Insa Wilke

Seit Jahren führt Norwegen das Ranking des "Human Development Reports" der Vereinten Nationen an. Irgendwas kann da nicht stimmen, denn in der norwegischen Export-Literatur wird verzweifelt viel getrunken, was zumindest auf nicht nur glückliche Entwicklungen schließen lässt. Der Rausch, die Einsamkeit, das zehrende Schreiben und der verdammte Alltag - das alles treibt den norwegischen Mann um und mit ihm die norwegische Männer-Literatur, wie Karl Ove Knausgård sie populär gemacht hat. Für ihre feinere, literarische Variante wurde Knausgårds Freund Tomas Espedal in Deutschland bekannt, als 2011 sein Essay "Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen" hier erschien.

Stünde der Name Zsuzsa Bánk über solchen Werken , würde der klassische Künstler-Konflikt ("Bürger oder Bohemien") und auch die gattungsüberschreitende Authentizitätsmaschine gleich ein bisschen weniger heroisch wirken. Es muss eben nach Whisky-Fahne und Achselschweiß müffeln, damit einem die zarten Schauer des echten Lebens angenehm den Nacken stimulieren. Worum es im Kern geht bei diesen radikalautobiografischen Versuchen, hat ein weiterer norwegischer Schriftsteller, Tor Ulven, der großartige Meister der Melancholie, vor Jahren benannt. In einem seiner letzten Interviews, bevor er sich 1995 das Leben nahm, sagte er, das Kunstwerk gebe einem "seine Plagen als Form" zurück. Diese uralte Methode, das Chaos in die Form zu bannen, wendet Tomas Espedal in der Textsammlung "Biografie, Tagebuch, Briefe" an, die in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel jetzt erschienen ist.

Mit der Form ist es aber so eine Sache: In Norwegen veröffentlichte Espedal die drei Teile des Buchs einzeln in den Jahren 1999, 2003 und 2005. Die Miniaturen und Notizen, die sich hinter den täuschend geradlinigen Titeln verbergen, an deren Interpretation sich die Philologie herrlich austoben kann, sind also möglicherweise Aufwärmübungen für die folgenden Werke "Gehen" (2006/dt. 2011), "Wider die Kunst" (2009/dt. 2015) und "Wider die Natur" (2011/dt. 2016) gewesen. Auf jeden Fall begegnen einem die tragenden Motivkreise - der Tod der Mutter, das Sterben der Frau, das Leben als Vater, als schwieriger Geliebter und als gefährdeter Künstler - in bündigerer Form da wieder.

In Deutschland wirken die zu einem hochwertig gestalteten Buch zusammengebundenen Einzelwerke "Biographie", "Tagebuch" und "Briefe" nun so, als habe Espedal jetzt erst zu seiner Form gefunden: einer Schreibpraxis, die nur noch Existenzform sein und sich gar nicht mehr in ein geschlossenes Kunstwerk fügen möchte. Statt vom Fragment in die Form geht die Bewegung hier ins Offene. Der Verlag schafft sich seinen Revoluzzer-Autor. Effektive Verlagsarbeit, selbst dann, wenn der Zufall mitgespielt haben sollte.

Die Betonung der Schreib-Bewegung ins Freie ist nämlich wesentlich für dieses Buch, das Orpheus' Reise ins Totenreich und seine diesmal erfolgreiche Rückkehr neu erzählt. Versucht man, das in einzelne, motivisch mehr oder weniger verknüpfte, manchmal epiphanische Momentaufnahmen aus dem Leben der Autorfigur zerfallende Werk als ein Ganzes zu lesen, ergibt sich der Eindruck, es führe vor, wie sich ein "trauerschweres" Bewusstsein schreibend aus dem Nebel zurück ins Leben kämpft.

Am Anfang lauscht man den Überlagerungen im Wohnhaus des Erzählers: den "Wasserfällen, die durch die Wände hinabrauschen", dem Hall der Kinderstimmen von einst, dem Gleichklang von Ein- und Ausblicken in die eigene und andere Wohnungen. Dieser Anfang ist eine der schönsten Stellen des Buches. Er nimmt das Todesthema durch das Lauschen in die Zeit und in die Räume der An- und Abwesenheit auf eine schlichte, konkrete Weise vorweg und verweist auf eine komplexe motivisch verzweigte Komposition über die notwendige Unbehaustheit des Künstlers und die Bewohnbarkeit der Existenz.

Ist das jetzt noch Kunst, oder ist das schon Kitsch?

Von diesem Anfang aus steuert man über qualitativ sehr unterschiedliche traumwandlerische Episoden mit der Tochter und den Geliebten, über Szenen am Schreibtisch und in den Straßen, über poetologische Reflexionen auf das Gravitationszentrum des Buches im zweiten Teil zu, dem "Tagebuch", das Agnete, Espedals verstorbener Frau, gewidmet ist. Aus der vollkommenen "Vergessenheit" nach dem Tod seiner Frau rettet die Autorfigur sich in die aktive, zu persönlichen "Epitaphen" geronnene Vergegenwärtigung und Erinnerung. Wir sehen dem "trauerschweren Mann" zu, wie er sich im Totenreich umzuwenden beginnt: "Die Äpfel steigen, einer nach dem anderen, rot, reif, schwer; sie werden leichter und steigen empor und finden zurück, sie wachsen jeder an ihrem eigenen Ort in den beiden Apfelbäumen fest." - Die Beschwörung der Zeit, im Deutschen mit einem kleinen Grammatikfehler, tritt an die Stelle des Wunsches, mit der Natur, also der Frau zu verschmelzen und sie durch das Selbstopfer zurückzuholen. Der Kampf löst die Hingabe ab.

Ist das jetzt noch Kunst oder doch schon Kitsch? Der Verdacht richtet sich weniger gegen das Trauerbuch als gegen die poetologische Bekenntnisschrift, gegen solche Sätze: "Man sitzt. Man schreibt. Man weckt die Sprache." Oder: "Wir müssen das Gefühl aus der Sprache vertreiben und es auf eine neue Weise wieder hineinbringen", wie ein Freund zitiert wird. - Klingt alles ungeheuer männlich, also heroisch, oder, wie Espedal schreibt: "Konzentriert. Hart." Aber am Ende ist es doch nur Ästhetik-Kitsch und so breitbeinig aus der Hüfte gedacht wie die Behauptung, Veränderungen seien gut, "wenn sie wehtun und man sie sich nicht aussuchen kann".

Durch die Widersprüchlichkeit gefühlsgetränkter Bilder und aggressiver Syntax dürfte die Empfindsamkeit des Tomas Espedal für seine Leser äußerst attraktiv sein. Und heldenhaft wild und hart poetisch kann man sich mit diesem Buch auch fühlen. Was will man mehr.

Tomas Espedal : Biografie, Tagebuch, Briefe. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 347 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 20.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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