Neuordnung der Welt:Ohne Sieger

Lesezeit: 5 min

Adam Tooze erzählt von der Neuordnung der Welt von 1916 bis 1931. Amerika unter Präsident Woodrow Wilson gab den Ton an, alle wurden durch die Schulden zusammengekettet.

Von Martin H. Geyer

Der Erste Weltkrieg provoziert dramatische Buchtitel. Mit "Sintflut" beispielsweise zitiert der früher in Cambridge und jetzt an der Universität Yale in den USA lehrende Historiker Adam Tooze den britischen Munitionsminister David Lloyd George, der Ende 1915 von einem "deluge" sprach.

Im Englischen hört sich das weniger biblisch-dramatisch an als in der deutschen Übersetzung. Das von dem späteren Premierminister beschworene Bild des Kriegs als "Zyklon, der die Zierpflanzen der modernen Gesellschaft samt Wurzeln ausreißt", passt gut zu der auch in der Wissenschaft etablierten Rede von der "Urkatastrophe", dem neuen "Zeitalter der Extreme" oder den "Zerrissenen Jahren".

Tooze geht es jedoch nicht um die Beschreibung des Grauens an der Front oder im Kriegsalltag. Ebenso wenig bemüht er die Anfänge eines "europäischen Bürgerkriegs", der beginnend mit dem Kriegseintritt der USA und dem Sieg der russischen Bolschewiki 1917 über den Aufstieg der faschistischen Bewegungen nach 1919 in eine ideologisch zerklüftete und von Gewalt durchsetzte Nachkriegsordnung und schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete. Solche Erklärungen verweisen auf die Legitimationsprobleme des ökonomischen wie politischen Liberalismus und damit die Schwäche demokratischer Ordnungen wie die der Weimarer Republik.

Auf erfrischende, gelegentlich provozierende Weise wendet Tooze sich gegen solche Interpretationen. Genau umgekehrt sucht er nach den Anfängen einer neuen, schon im Ersten Weltkrieg unter der Ägide der USA entstehenden, liberalen internationalen Nachkriegsordnung, welche die Existenz- und Rahmenbedingungen für demokratische Regierungssysteme schuf. Schon in der Weltwirtschaftskrise, also nicht erst 1933, kollabierte dieses System - mit verheerenden Folgen.

Tooze ist in bester englischer Manier ein großer Meister der erzählenden Darstellung und der subtilen Interpretation. Er lenkt den Blick weit über Europa hinaus und verknüpft zahlreiche Ereignisstränge. Die großen militärischen Schlachten interessieren den Wirtschaftshistoriker, Autor einer profunden Wirtschaftsgeschichte der NS-Zeit, nicht. Stattdessen fragt er, wie der Krieg finanziert wurde. Was bedeutete es, dass die USA - besonders die Wall Street - durch Kredite insbesondere den Alliierten den Erwerb von Kriegsgerät und Nahrungsmitteln ermöglichten?

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (li.) mit dem französischen Präsidenten Raymond Poincaré. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Schulden ketteten alle Beteiligten gleich einer "chain gang" zusammen

Das Buch setzt mit dem Jahr 1916 ein, als die USA die europäischen Industriestaaten als Wirtschaftsmacht überflügelten. Aus dem vormaligen Schuldner- wurde ein Gläubigerland, bei dem die Europäer mit gigantischen Summen in der Kreide standen. Das ist zwar ebenso wenig neu wie die Tatsache, dass die USA auch nach dem Scheitern ihres Präsidenten Woodrow Wilson und nach ihrem Rückzug aus Europa präsent blieben. Dafür sorgten die interalliierten Schulden, die nur über weitere Schulden - die deutschen Reparationen - überhaupt bezahlt werden konnten.

Die Lektüre dieser mit Tabellen gespickten Passagen ist kein Sonntagsspaziergang, aber lohnenswert, denn daraus entwickelt Tooze sein zentrales Argument: Die endlosen Schulden- und Reparationenverhandlungen waren zwar konfliktreich, garantierten aber zugleich die Stabilität des neuen, seit dem Krieg unter Führung der USA entstehenden internationalen politischen Systems. Die Schulden ketteten alle Beteiligten gleich einer "chain gang" unter Führung der im Hintergrund agierenden USA zusammen. Schulden bildeten den Kitt einer gemeinsamen Schicksalsgemeinschaft infolge des Krieges, in dem es aus ökonomischer Sicht keine Gewinner gab, am Ende selbst nicht einmal die USA.

Tooze, Inhaber eines Lehrstuhls für internationale Sicherheitsstudien, verfolgt diese Formen internationaler Kooperation in der internationalen Politik - seien es die Versailler Friedensvertragsverhandlungen, seien es die Abrüstungs- oder internationalen Sicherheitskonferenzen. Spannend und provozierend sind seine Überlegungen zur Rolle Woodrow Wilsons.

Für Tooze verkörpert er ein radikal neues Prinzip, das die internationale Politik des 19. Jahrhunderts aus den Angeln heben sollte: Die USA als "Übermacht", oder besser als "Hypermacht" (Josef Joffe). Dazu dekonstruiert er brillant alle Klischees über den amerikanischen Präsidenten: seine vermeintliche Doppelzüngigkeit, die Abhängigkeit von der Wall Street beim Kriegseintritt 1917, sein Engagement in der Selbstbestimmungsfrage, aber auch seine Rolle als Vordenker liberaler internationaler Handelspolitik.

Der aus den Südstaaten stammende Demokrat Wilson wurzelte in einer spezifischen amerikanischen liberalen Tradition, dem Rassismus alles andere als fremd war, was auch die Chinesen und Japaner oft genug zu spüren bekamen. Im Gegensatz zu vielen enthusiastischen "Wilsonians" in der ganzen Welt erscheint der Präsident als ein Konservativer in der Tradition Edmund Burkes, der nichts von revolutionären Umwälzungen hielt (was im Übrigen auch seine pessimistische Einschätzung Deutschlands erklärt).

Adam Tooze: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931. Siedler Verlag, München 2015. 720 Seiten, 34,99 Euro. E-Book 28,99 Euro. (Foto: SIEDLER)

Die neue Pax Americana förderte demokratische Bewegungen auch über Europa hinaus

Entscheidend war sein Misstrauen gegenüber den europäischen Händeln der Großmächte. Wilsons Slogan "war without victory" war Programm und wies über die Kriegszeit hinaus: Wilson begriff die USA als Schiedsrichter und Anwalt der Menschheit, eben als eine "Hypermacht", die dank ihrer Vormachtstellung selbst bei Abwesenheit immer anwesend war. Man mag trefflich darüber streiten, ob Wilsons Völkerbund nicht eben doch eine andere Form von kollektiver Sicherheit unter Einschluss der USA bedeutet hätte. Sehr viel scheint Tooze von diesem Instrument nicht zu halten, denn die Rolle des Völkerbunds wird nur gestreift.

In epischer Breite verknüpft der Autor die ökonomische und politische Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Umweg ist dabei manchmal schöner als das Ziel, namentlich das Argument, dass sich fast alle Mächte - nolens volens - der amerikanischen Führungsmacht unterordneten. Die Implikationen waren weitreichend: Die neue Pax Americana stützte und förderte liberale und demokratische Bewegungen auch über Europa hinaus. Das Jahr der Friedensresolution des Reichstags und der russischen Revolution 1917 ist dabei von großer Bedeutung. Die Konversion Gustav Stresemanns vom kaiserlichen Imperialisten zum republikanischen Vernunftpolitiker, der sich mit der Pax Americana und der Nachkriegsordnung arrangierte und deutsche Schulden in politische Stärke umzumünzen versuchte, ist nur ein Beispiel unter vielen. Vor dem Hintergrund der Forschung, die das demokratische Potenzial der Zwischenkriegszeit ausloten will, sind das außerordentlich wichtige Überlegungen.

Extrem nationalistische, politisch-reaktionäre ebenso wie kommunistische Bewegungen werden in ihrer Bedeutung vielleicht etwas zu marginal gezeichnet, auch wenn Tooze zu Recht auf das Scheitern der hohen Erwartungen der russischen Bolschewiki hinweist. Seine Pointe ist eine andere und in jeder Hinsicht sehr viel bedeutsamer: Wer auch immer die Revision des Status quo betreiben wollte - deutsche, japanische oder italienische Expansionisten ebenso wie die Bolschewiki -, sie alle sahen sich mit der Pax Americana konfrontiert. Die USA waren demnach für Revisionisten jeder Couleur der eigentliche, formidable Gegner, auf den sie sich auch mit neuen Mitteln einstellen mussten.

Zu Beginn der Dreißigerjahre verfolgten die USA eine radikal isolationistische Politik

Die tragische Ironie der Geschichte besteht für Tooze darin, wie schnell diese Nachkriegsordnung in der Weltwirtschaftskrise Risse bekam. Die Abkehr der Briten vom Goldstandard 1931 und der Rückzug hinter zollpolitische Mauern ist ein Teil der Geschichte. Der andere, fast wichtigere, handelt von den Bemühungen der Regierung Heinrich Brüning auf dem Höhepunkt der deutschen Bankenkrise, zunächst ein Moratorium der Reparationen zu erwirken, was dann mit der Sistierung der Reparationen im Lausanner Vertrag im folgenden Jahr erfolgreich zu Ende geführt wurde.

Dieser Durchbruch Brünings und seines Nachfolgers erwiesen sich als Desaster. Die disziplinierenden Wirkungen der durch Schuldverpflichtungen zusammengeschweißten "chain gang" fielen damit fort. Da die USA zu Beginn der Dreißigerjahre eine radikal isolationistische Politik verfolgten, hatten die Verfechter liberaler und demokratischer Ordnungsideen das Nachsehen.

Das war zwar nicht, wie Tooze vage andeutet, die Ursache für radikale, nationalistische und faschistische Bewegungen. Aber diese Konstellation schuf neue Möglichkeitsräume. Die neuen Unruhestifter der Weltordnung konnten sich etablieren und befanden sich bald auch im Wettstreit mit der unter Franklin Delano Roosevelt sich neu formierenden und erst seit dem Zweiten Weltkrieg wirklich effektiv agierenden "Hypermacht". Wer diese Geschichte verstehen will, muss das Buch von Adam Tooze über die "Neuordnung der Welt 1916 - 1931" lesen.

© SZ vom 26.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: