Neues Buch von J.K. Rowling:Schwarze Fliegen, die an Schädeln kleben

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Die Reichen sind böse und die Armen sind immer ein bisschen gut: Kann man in diesen Zeiten noch einen moralischen Roman schreiben und Sozialkritik üben? Joanne K. Rowling kann es. Ihr erster Roman "Ein plötzlicher Todesfall" ist ein schreckliches Märchen.

Willi Winkler

Auf Seite 346, nicht lang nach der Mitte des Romans, fällt der Satz, der an das Frühwerk von J. K. Rowling anschließt und die Leser, die sie mit ihren sieben "Harry Potter"-Büchern und den nachfolgenden, effektgeilen Verfilmungen sanft durch die Pubertät geleitet hat, mit der Vertreibung aus dem fantastischen Hogwarts versöhnen kann: "Gaia kam sich vor, als wäre sie durch ein Tor in ein vergessenes Land gefallen." Das vergessene Land aber ist diesmal nicht in einem Zauberwald zu finden, sondern in einer ohne Weiteres wiedererkennbaren, wenn auch zum Glück den meisten Lesern nicht vertrauten Gegenwart.

 J. K. Rowling, reichste Frau Großbritanniens, übt in ihrem neuen Roman "Plötzlicher Todesfall" Sozialkritik - aber es ist ihr ernst damit. (Foto: REUTERS)

Auch wenn sich die Autorin mit aller Gewalt von der Potterei absetzen will, schließt sie doch an die einzig wahre, die Pubertätsliteratur an. Rowlings erster Post-Potter-Roman führt erneut in ein phantastisches, den ganz und gar Erwachsenen unzugängliches Märchenreich, nur dass es diesmal bitter ernst wird. Es geht also wieder um die Leiden der Knaben, die ihr rätselhafter Körper nicht weniger quält als die Mädchen, es geht um die natürlichen Feinde, die Lehrer also und die Eltern, es geht um den Lauf der Welt.

Die ist seit je ungerecht und wird im "Plötzlichen Todesfall" ( aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen Verlag, 576 Seiten, 24,90 Euro) fein säuberlich nicht nur sozial, sondern auch geografisch aufgeteilt. Da ist das "Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort". Jenseits des Hügels liegt die immer weiter ausgreifende Stadt Yarvil. Dazwischen dehnt sich die zugebretterte, Graffiti-verschmierte und sowieso hoffnungslose Sozialsiedlung mitsamt einer Drogenklinik, der die Schließung droht.

Darum herum wird ein schockierendes Anti-Idyll aus jenem westlichen England inszeniert, in dem J. K. Rowling einst aufgewachsen ist. Zwei leicht unterscheidbare Parteien bekämpfen sich in Pagford: die Wohlhabenden, die an das Glück des Tüchtigen glauben oder es schon geerbt haben, und auf der anderen Seite die Sozialingenieure, die als Ärzte, Lehrer und Betreuer das moderne Elend zwischen Arbeitslosigkeit, medialer Überflutung und Drogensucht zu lindern suchen. Als ein frei gewordener Sitz im Gemeinderat neu besetzt werden soll, wird hemmungslos intrigiert und konspiriert, wird gelogen und betrogen, als wäre die Kleinstadt keine, sondern mindestens Whitehall und das hohe Parlament.

Das sorgt oft für eine lustige comedy of manners, wenn es etwa zum gesellschaftlich wichtigen Abendessen kommt, bei dem die Schwiegermutter die verachtete Frau ihres Sohnes nach ihrer Diät fragt und diese ihren Mann bei jeder Gelegenheit als lustlosen Stießel behandelt, den sie vorzugsweise mit der DVD einer boy group und reichlich Wein betrügt. Getrunken wird überhaupt gern und immer zu viel, weil sonst niemals die Lebenslüge herauszupräparieren wäre, in der der moderne Mensch spätestens seit Ibsen gefangen ist.

Das ist oft so realitätsmimetisch wie ein Fernsehfilm und entsprechend unterhaltsam. Da entstehen lakonische Beobachtungen wie beim Anblick von Sheila, die "an einen kleinen Pfefferstreuer mit umgebundener Schürze erinnert". Es fallen aber auch Sätze, die John Updike hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Howard Mollisons Fettleibigkeit erklärt wird. Mit vier Jahren, als der Vater die Familie verließ, war er angemessen schmächtig. "Nachdem sein Vater fort war, musste Howard sich ans Kopfende des Tisches setzen, zwischen seine Mutter und seine Großmutter, und seine Mutter war gekränkt, wenn er keinen Nachschlag nahm. Er hatte zugenommen, allmählich die Lücke zwischen den beiden Frauen aufgefüllt, und war mit zwölf so schwer wie der Vater, der sie verlassen hatte."

Die Namen sind nicht weniger sprechend als bei Thomas Mann: der Lokalheilige, der, um den Plot in Gang zu setzen, bereits auf den ersten Seiten sterben muss, heißt Barry Fairbrother, der Kleinstadtkönig Howard Mollison, die Schlampe aus der Sozialsiedlung Krystal Weedon. Das bürgerliche Mittelstandsleben spielt sich in der Hope Street und in der Church Row ab, die Sozialsiedlung heißt Fields, so dass jedem aufgehen wird, auf welchen Rieselfeldern sie errichtet sein muss. Auch sonst kennt die Autorin wenig Angst vor dem Klischee, wenn wie im Sozialroman seit Charles Dickens und Benjamin Disraeli die Reichen böse und die Armen wenigstens ein bisschen gut sein müssen.

Auch sprachlich übertreibt sie es manchmal, wenn sie ihrem Hang zur ausgedehnten Metapher folgt, die sich beim Schreiben besser angefühlt haben muss als beim Lesen: "Diese unangenehme und bisher verborgene Tatsache war allmählich im Kielwasser von Barrys Tod aufgetaucht, wie Treibgut, das von der Ebbe freigelegt wurde." "Wenn man clean war, steigt ein Schwall böser Gedanken und Erinnerungen aus der Dunkelheit in einem auf, summende schwarze Fliegen, die innen an der Schädeldecke kleben."

Was aber neben der Feststellung, dass der "Plötzliche Todesfall" (im Original: "The Casual Vacancy" - "die unerwartete Vakanz") kein weiterer "Harry Potter" ist, den Kritikern das Buch so schwer macht, ist das kaum verhohlene Anliegen der Autorin, im Jahr 2012 einen moralischen Roman zu präsentieren. Das war dem aufgeklärten englischen Roman von George Eliot bis Muriel Spark seit jeher wichtig.

Für die Kinder, erst recht, wenn sie die Pubertät erreicht haben, kann die erwachsene Welt der Backsteinhäuser und Geranientöpfe nur die Hölle sein. Weil ihre Mutter sich verzweifelt an einen Mann hängt, von dem sie sich geliebt glaubt, wird Gaia von London aufs Land verschleppt. "Von ihren Freunden getrennt, die sie seit der Grundschule kannte, dem Haus, in dem sie seit ihrem achten Lebensjahr wohnte, von Wochenenden, die sich zunehmend um jede Art von Spaß in der Stadt drehten, sah sich Gaia trotz ihrer Bitten, Drohungen und Proteste in ein Leben geworfen, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte."

Es ist die Szenerie, an der sich die zahlreichen Freunde von Rosemarie Pilcher berauschen würden. Da es sich aber um einen richtigen Roman handelt, lauert genau hier das Unheil. Die Schüler in Pagford maulen ständig gegen ihre hilflosen Lehrer, wenn sie die Schule nicht gleich schwänzen. Sie nehmen Drogen und treffen sich - im Roman geschieht das zu Abschreckungszwecken recht bald - zum lieblosen Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof. "Sie war trockener als beim letzten Mal, und er zwängte sich in sie, fest entschlossen, das zu vollbringen, wozu er hergekommen war." Das kommt so ähnlich auch bei Wedekind vor und ist erkennbar darauf berechnet, den maximalen Abstand sowohl zum verzwitscherten Kleinstadt-Idyll wie zu den klinisch sexfreien Potter-Bänden herzustellen.

Wer will, kann auch in den Mail-Botschaften, die der "Geist von Barry Fairbrother" an die guten Bürger von Pagford schickt, einen Rest Zauberei sehen. Die Autorin nutzt den Theatertrick, um das Gewissen schlagen zu lassen, ohne das die Bürger auskommen zu glauben. Das moralische Dreieck, das Rowling um den früh gestorbenen Barry Fairbrother zieht, besteht aus den Freunden Andrew und Stuart sowie aus der legasthenischen Schulverweigerin Krystal. Die Buben wetteifern darum, sich vor den Schulkameraden zu produzieren und ihren verachteten und gehassten Vätern das Leben schwer zu machen, und doch treibt sie nichts mehr um als die Frage, wie das richtige Leben zu führen sei.

Aus dem ganzen Elend von Sozialsiedlung, Drogensucht, Beschaffungskriminalität und dem beständigen Terrorisieren schwächerer Mitschüler erhebt sich als unwahrscheinlichste Heldin Krystal, die sich mit ihren sechzehn Jahren sowohl um ihre sich für einen Schuss jederzeit prostituierende Mutter wie um ihren verwahrlosten vierjährigen Bruder kümmert. Dass ausgerechnet die Unterschicht eine solche Heilige hervorbringt, dass das Sittengesetz nicht von Angehörigen der kungelnden und berechnenden oberen Mittelstandsschicht, sondern von einer Schulschlampe befolgt wird, ist nicht leicht zu begreifen. Aber wer ein Buch wie "Brighton Rock" (1938) gelesen hat, wird nicht vergessen haben, dass auch der Katholik Graham Greene Pinkie, der doch nichts anderes als ein Gangster sein sollte, zu einem weltlichen Heiligen macht.

Ein Roman, der nicht so plump wie die Freunde von Occupy argumentiert, aber mit einer ähnlichen Anklage gegen die Habenden auftritt, der sich nicht in Lafontaine'schen Beschwerden über die Eigentumsverhältnisse erschöpft, sondern sich auch noch erlaubt, die Zustände in den unterschiedlichen sozialen Quartieren komisch zu finden, wird die ziemlich genau in der Mitte geteilte westliche Gesellschaft in seinem altmodischen Gestus überfordern. Aber noch einmal: dieser Frau ist es ernst damit.

So klischeefest und gestaucht Pagford zu sein scheint, es bietet ein erstaunlich reales Abbild der Gegenwart. J. K. Rowling sagte als Opfer vor dem Leveson-Ausschuss aus, der die innige Verflechtung von politischen und publizistischen Interessen im Umkreis des Großverlegers Rupert Murdoch untersuchen sollte. Murdochs Schnüffel-Reporter hatten ihr vergleichsweise wenig angetan, aber immerhin kam bei den Anhörungen das Netzwerk des Oxfordshire set zum Vorschein, zu dem sich stolz auch der gegenwärtige Premierminister zählte. Das klischierte Pagford mit seinen Absprachen und Hacker-Angriffen ist der Normalfall, und nicht nur im Nordwesten von England. Es ist ein Albtraum, der bitte, bitte irgendwann aufhören soll.

Ausgerechnet J. K. Rowling, die zur reichsten Frau Großbritanniens aufgestiegen ist, übt die Sozialkritik, die nicht nur in England als vorgestrig und unterkomplex gilt. In ihrem Buch hat sie ein vergessenes Land aufgesucht. Schrecklich ist es, wie ein Märchen.

© SZ vom 29.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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